Nie wieder?

Die Fratze des Bösen grinst uns unverschämt aufs Neue an. Wir kennen sie von Fotos aus dem Jahr 1938. Im deutschen Ortsteil Clausnitz des Dorfs Rechenberg-Bienenmühle blockieren im Jahr 2016 mehr als hundert Menschen einen Bus, in dem sich Flüchtlinge, darunter auch Kinder, befinden. Sie schreien „Wir sind das Volk“, spucken auf die Windschutzscheibe und lassen die verängstigten Insassen nicht aussteigen. Die Gesichter der Angreifer sieht man auf dem im Internet kursierenden Amateurvideo nicht. Wir brauchen sie nicht zu sehen, um zu wissen, dass es sich um dieselbe Fratze des Bösen handelt.

Wikipedia listet hunderte Straftaten aus fremdenfeindlichen Motiven im heutigen Deutschland auf. Ein weiteres Beispiel aus Chemnitz gefällig? „In der Silvesternacht wurde eine dreiköpfige Familie am Gablenzplatz von mehreren Unbekannten angegriffen und fremdenfeindlich beschimpft. Der 48-jährige, auf einen Rollator angewiesene Familienvater aus Tunesien wurde mit Reizgas besprüht und zu Boden geschlagen, seine 13-jährige Tochter getreten. Die Täter flüchteten, die Familie wurde ins Krankenhaus gebracht. Zum Zeitpunkt des Übergriffs waren laut Aussagen der Opfer zahlreiche Menschen am Gablenzplatz.“

Blenden wir nach Österreich. Auch hier kommt es zu Schmierereien, zu Böllerangriffen, zu Beschimpfungen. Aber hier hat die Fratze noch eine weitere Dimension. Sie sitzt auf den Köpfen von juristisch gebildeten, aufgeklärten, sozial begünstigten Menschen. Und das ist so ungeheuerlich, dass es einem den Atem verschlägt.

Im Konzentrationslager Mauthausen waren im Nationalsozialismus fast 200.000 Menschen wegen ihrer politischen Tätigkeit, ihren „kriminellen Vorstrafen“, ihrer religiösen Überzeugung, ihrer Homosexualität, aus „rassischen“ Gründen oder als Kriegsgefangene eingesperrt. Die Hälfte von ihnen wurde hier ermordet. Die Menschen mussten bei ungenügender Ernährung Schwerstarbeit im Steinbruch verrichten. Sie wurden krank, magerten bis zum Skelett ab, vegetierten dahin, in ständiger Angst vor dem allgegenwärtigen Tod. Ein Davonkommen war nicht möglich. Dafür sorgte auch die Bevölkerung, die in der Nähe des Konzentrationslagers ihr gutbürgerliches Idyll pflegte. Im Februar 1945, drei Monate vor der Befreiung aus dieser Hölle auf oberösterreichischer Erde, versuchten 500 sowjetische Gefangene zu fliehen. Dazu ein nach Kriegsende angefertigter Bericht des Gendarmerie-Majors Johann Kohout, Postenkommandant in Schwertberg, zu lesen auf der Homepage der Gedenkstätte Mauthausen:

„Die Straße von Mauthausen war bereits vom Volkssturm besetzt. Die Leute waren wie bei einer Treibjagd aufgestellt. Es ging sehr wüst zu. Geschossen wurde auf alles, was sich rührte. […] Der Schneematsch auf der Straße färbte sich mit dem Blut der Erschossenen. Überall, wie und wo man sie antraf, in den Wohnungen, Wagenhütten, im Kuhstall, am Heuboden, im Keller, wenn man sie nicht herausholte und beim nächsten Hauseck erledigte, erschoss man sie auf der Stelle, egal wer anwesend war […] einigen spaltete man das Haupt mit einem Beil. […] In der sogenannten Lem-Villa wohnte ein gewisser […], dessen Frau hörte am Abend beim Füttern der Ziegen in der Futtervoratskammer ein Geräusch. Sie holte ihren Mann, der einen Flüchtling aus dem Versteck hervorholte […] Der Bauer stach diesem armen Menschen mit seinem Taschenmesser in den Hals, dass das Blut spritzte. Die Frau sprang hinzu und versetzte dem Sterbenden noch eine Ohrfeige.“

Vor kurzem hat das rechtsextreme österreichische Magazin Aula die zu Kriegsende 1945 befreiten Häftlinge als „Massenmörder“, „Landplage“ und „Kriminelle“ bezeichnet. Wohlgemerkt, die Häftlinge, nicht die Nazi-Mörder. Das führte zu einer Anzeige wegen Wiederbetätigung. Das Verfahren wurde von der Staatsanwaltschaft Graz unter anderem mit der Begründung eingestellt, es sei „nachvollziehbar, dass die Freilassung mehrerer tausend Menschen aus dem Konzentrationslager Mauthausen eine Belästigung für die betroffenen Gebiete Österreichs darstellte“. Der Justiz-Rechtschutzbeauftragte Gottfried Strasser fand daran nichts auszusetzen. Es sei ein historisches Faktum, so meinte er, dass es im KZ auch inhaftierte Rechtsbrecher gegeben habe. In Gesprächen mit Journalisten soll er hinzugefügt haben, dass sein Vater, ein Polizist aus der Gegend von Mauthausen, unangenehme Erlebnisse mit Häftlingen gehabt habe. Es sind österreichische Spitzenjuristen, die den Opfern des Mörderregimes ins Massengrab nachspucken.

Bald schon, im Mai werden sich Honoratioren der Republik in Mauthausen zum Gedenken versammeln. Sie werden wie immer das „Nie wieder“ predigen. Inhaltsleerer kann eine Phrase nicht sein, wie uns die heutige Realität lehrt.

Pessach Sameach,
Ihr Peter Menasse
Chefredakteur

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