Das Jewish Deli ist noch sehr lebendig, wie ein Lokalaugenschein in New York zeigt. Vor den alteingesessenen Delis sind die Schlangen mindestens so lang wie vor dem neu eröffneten Museum of Modern Art.
Der Untergang der jüdischen Delikatessen-Läden, der noch vor wenigen Jahren prophezeit wurde, scheint definitiv nicht stattzufinden. Zwar ist von den 1500 Jewish Delis, die es in den 1930er Jahren in New York gab, nur noch ein Bruchteil übrig, dennoch feiern Pastrami, Bagel und Co. ein Revival – und zwar nicht nur im Bereich der „klassischen“ New Yorker Delis.
In der Metropole haben sich in den verschiedensten Stadtvierteln junge Köchinnen und Köche der jüdischen Küche angenommen und Lokale eröffnet, in denen sie altbewährte Rezepte mit neuen Essenstrends vermischen. Mittlerweile hat sich dieser Trend quer durch das Land fortgesetzt. Der neue Höhenflug wird durch die Verbreitung über Food Blogs und Instagram noch um ein Vielfaches befördert. Einem der legendären Restaurants, Russ and Daughters, ist derzeit sogar eine Ausstellung in der American Jewish Historical Society gewidmet.
Soldaten mit Salami
Der Geburtsort des Delis liegt in der Lower East Side in Manhattan. Das erste derartige Restaurant wurde 1888 von jüdischen Emigranten aus Weißrussland gegründet. Zunächst im Besitz der Brüder Iceland und Willy Katz, übernahm die Familie Katz 1910 das Lokal, das seither Katz’s Delicatessen heißt. Später kam auch die Familie Tarowsky dazu. Durch die Einwanderungswelle von Jüdinnen und Juden aus (Ost-)Europa nach New York wurde Katz’s Deli zu einem Treffpunkt – auch für die Schauspieler der vielen umliegenden jiddischen Theater. Die Söhne der Besitzer von Katz’s kämpften im Zweiten Weltkrieg als Soldaten der US-Army gegen die Nazis. Sie prägten damals den Slogan „Send a Salami to your Boy in the Army“. Die heutige Geschäftsfassade besteht seit 1949. Zum 100. Geburtstag verkauften die Brüder das Unternehmen. Seither wird es von der Familie Dell geführt. Der 31-jährige Jake Dell expandiert und will auch Filialen außerhalb der USA eröffnen.
Um die traditionell jüdischen, aber heute nicht mehr koscheren Speisen zu erhalten, braucht man viel Geduld, die Menschenschlangen vor dem Lokal reichen oft bis zum Ende des Blocks. Ist man einmal im brechend vollen Restaurant, erhält man ein Ticket, auf dem Essen und Getränke notiert werden. Aber Achtung: Wer es verliert, muss fünfzig Dollar zahlen. Das Essen und die Getränke holt man sich selbst an verschiedenen Stationen, die Rechnung bezahlt man entweder in bar am Ausgang oder mit Kreditkarte an einer der Stationen. Sich durch das Menschengewühl zu drängen, erfordert Geduld und Nervenstärke. Dafür wird man mit köstlichen traditionell-jüdischen Gerichten belohnt. Mein Tipp: Matzekneidlsuppe. Die 14.000 Gäste pro Woche verzehren unter anderem 4000 Hot Dogs, fast 7000 Kilo Pastrami und 900 Kilo Salami.
International bekannt wurde Katz’s Delicatessen durch den Film Harry und Sally, in dem Meg Ryan Billy Crystal einen Orgasmus vorspielt. Nachdem ihr das großartig gelungen ist, sagt die Dame am Nachbartisch: „I’ll have what she’s having …“
Keine leichte Kost
Sollte die Schlange bei Katz’s zu lang sein, kann man ein paar Häuser weiter bei Russ & Daughters sein Glück versuchen. Auch hier ist es nicht leicht, in das Innere des Lokals vorzudringen, doch das Warten lohnt sich. Der Gründervater des Unternehmens begann 1905 damit, Heringe und Pilze auf der Straße zu verkaufen oder nach Hause zu liefern, bis er neun Jahre später genug Geld hatte, um sein eigenes Lokal zu eröffnen. Seine drei Töchter unterstützten ihn, und zwar tatsächlich von Kindesbeinen an. Während die meisten Betriebe „…und Söhne“ genannt wurden, stellte Russ and Daughters eine Ausnahme dar: Hier gab es keine Söhne. Bis heute ist das Lokal im Familienbesitz. Vor fünf Jahren öffnete die Familie Russ eine Filiale im New Yorker Jewish Museum, eine Kombination, die unschlagbar ist. Die Auswahl an verschiedenen Varianten von Lachs bzw. Bagels ist enorm, mein Tipp ist der „gebackene“ Lachs, beenden sollte man das Essen mit einem Schoko-Rugelach. Das alles ist zwar keine leichte Kost, aber immer noch einfacher zu verdauen als das Essen ein paar Türen weiter.
Bei Yonah Schimmel bekommt man die traditionellen Knisches, und das seit 1890. Der rumänisch-jüdische Einwanderer Yonah Schimmel verkaufte seine Speisen zunächst auf einem Schubkarren auf der Straße, ehe er sich ein Geschäftslokal leisten konnte. Seither ist die Bäckerei im Familienbesitz, und man hat den Eindruck, die Ausstattung sei fast noch original. Der gebackene Teig der Knisches ist mit Kartoffeln, Käse, Spinat oder Äpfeln gefüllt. In jedem Fall sättigt der Genuss eines Stücks bei Yonah Schimmel den ganzen Tag. Laut meiner Freundin Ann Segan, deren Vater Arthur Rothstein, ein großer amerikanischer Fotograf, die Lokale auf der Lower East Side porträtierte, hat man früher im Winter ein heißes Knisch in ein Tuch eingewickelt und den Babys in den Kinderwagen gelegt, damit sie nicht frieren.
Woody Allen hat bei Yonah Schimmel eine Filmszene gedreht und ist hier immer wieder zu Gast. Sein Witz über zwei Frauen in einem Restaurant, die sich über das Essen unterhalten, trifft auf all die oben genannten jedenfalls definitiv nicht zu! Die Eine: „Das Essen hier ist wirklich schlecht.“ Darauf die Andere: „Ja, und die Portionen sind so klein.“