Unseren Mitmenschen durch unser Verhalten keinen Nachteil zu verursachen oder gar Schaden zuzufügen, bedeutet keine Gewissensentscheidung. Das Tora-Gebot der Nächstenliebe ist kein Ziel, sondern Voraussetzung.
Von Rabbiner Schlomo Hofmeister
Die Tora gebietet uns, wie es zur universellen Maxime des ethischen Monotheismus wurde, unseren Mitmenschen mit Respekt und solidarischer Nächstenliebe zu begegnen – und dies ungeachtet ihrer sozialen Stellung oder gesellschaftlichen Zugehörigkeit. Anderen mit Anstand, Wohlwollen und Mitgefühl in unseren Herzen zu begegnen, ist zwar eine wichtige Grundhaltung, jedoch bei Weitem nicht genug.
Um das Gebot der Nächstenliebe wirklich zu erfüllen, müssen wir aktive Schritte unternehmen. Wie Maimonides (1138–1204) schreibt, sind wir beispielsweise dazu verpflichtet, uns jederzeit für das materielle, geistige und gesellschaftliche Wohl unserer Mitmenschen tatkräftig einzusetzen und bei jeder Gelegenheit Gutes über sie zu sprechen (Rambam Hilchot De’ot 6:3). Dies jedoch mit der Einschränkung, Schlechtes nicht schönzureden, sondern dazu besser zu schweigen; und uns zurückzuhalten, Gutes über jemanden zu sprechen, wenn wir damit rechnen können, dass unser Gesprächspartner darauf mit bösartigen Kommentaren oder anderen antagonistischen Reaktionen reagieren könnte (Sefer Chofetz Chaim 9).
Der berühmte Tora-Kommentator Raschi (1040–1105) zitiert in diesem Zusammenhang aus der Mischna, wo der talmudische Rabbi Akiva das Gebot der Nächstenliebe ואהבת לרעך כמוך – „und liebe deinen Nächsten, denn er ist wie du!“ (Leviticus 19:18) als כלל גדול בתורה – „fundamentale Regel in der Tora“ bezeichnet. Soll das heißen, dass das Gebot der Nächstenliebe und die daraus hervorgehende gesellschaftliche und zwischenmenschliche Verantwortung des Individuums die eigentliche Essenz, oder gar der ganze Sinn der Tora-Gesetze ist? Wenn dem so ist, würden dann nicht die anderen, unzähligen Gesetze und Vorschriften der Tora hinfällig, solange wir uns diesem kategorischen Imperativ des Judentums entsprechend verhalten?
Keine Gewissensentscheidung
Der aus London stammende amtierende Oberrabbiner von Jerusalem, Rabbi Mosche Sternbuch (*1928), erklärt es folgendermaßen: Rabbi Akiva möchte uns sagen, dass die Erfüllung der Verpflichtung zur Nächstenliebe jedem von uns die Grundlage zur Erfüllung aller anderen Gebote der Tora sein muss. Das bedeutet, dass wir – wenn wir das Gebot der Nächstenliebe konsequent ernst nehmen und unser Denken und Tun bestmöglich daran ausrichten – auch alle anderen Gebote בין אדם לחברו gewissenhaft erfüllen können, die das zwischenmenschliche Verhalten regeln. Unseren Mitmenschen durch unser Verhalten keinen Nachteil zu verursachen oder gar Schaden zuzufügen bedeutet dann keine Gewissensentscheidung mehr, sondern wird zur Selbstverständlichkeit, als ginge es um unsere eigenen, persönlichen Interessen.
Dies betrifft sowohl die unterschiedlichsten Bereiche unseres Sozialverhaltens als auch unser Geschäftsgebaren. Gleichzeitig wird diese Selbstverständlichkeit uns helfen, die Geboteבין אדם למקום – die „rituell-religiösen Vorschriften“ (eine nicht ganz unproblematische Wortwahl, zu der mir aber gerade keine bessere Formulierung einfällt!) –, die leider von vielen lediglich als Tradition oder leere Rituale ausgeführt oder gar nur als kleinliche und unnötige Verbote und Einschränkungen der persönlichen Freiheit missverstanden werden, mit mehr Hingabe und Verständnis zu befolgen.
Stabiles Fundament
Wenn wir uns sensibilisieren, alle unsere Mitmenschen aufgrund dieser Tatsache – also weil sie Mitmenschen sind – zu respektieren und zu lieben, werden wir letzten Endes auch unserem Schöpfer mehr Liebe, Respekt und Dankbarkeit entgegenbringen und uns den Gesetzen Seiner Tora mit mehr Verantwortung stellen.
In diesem Sinne beabsichtigt Rabbi Akiva also keine funktionalistische Definition von Tora und Halacha zur Herzensbildung, sondern beschreibt die Nächstenliebe als das stets zu achtende, stabile Fundament, auf dem allein das Haus von Tora und Mizwot gebaut werden kann. Das Tora-Gebot der Nächstenliebe ist demnach nicht das zu erreichende Ziel oder der Sukkus unseres „religiösen“ Lebens, sondern die Conditio sine qua non für Jüdinnen und Juden, den Verpflichtungen von Tora und Mizwot überhaupt erst nachkommen und unserer Verantwortung gerecht werden zu können.
Die leider allzu bekannte Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis manifestiert sich bisweilen natürlich auch in diesem Bereich, der für die menschliche Schwäche des Doppelstandards besonders anfällig ist. Wenn Religion zum Opfer politischer Agenda wird und unreflektierte religiöse Praxis zur selbstdienlichen Tradition verkommt – beides stellt einen Missbrauch von Religion dar, gegen den wir uns stets mit Wachsamkeit verwahren müssen.
Schlomo Hofmeister ist Gemeinderabbiner der Israelitischen Kultusgemeinde.