„Morgen muss ich wieder fünfzig Polen erschießen“

In seinem neuen Buch „Die Rattenlinie – Ein Nazi auf der Flucht“ porträtiert der britische Autor Philippe Sands den österreichischen SS-Offizier Otto Wächter. Der glühende Nationalsozialist wollte nach dem Krieg über die sogenannte „Rattenlinie“ nach Übersee gelangen.

Von Danielle Spera

Dass die USA und der Vatikan nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs führenden Vertretern des NS-Regimes zur Flucht verhalfen, ist ein mittlerweile weithin erforschtes Phänomen. Die Fluchtroute über Italien, auf der unter anderem Adolf Eichmann, der Lagerarzt von Auschwitz, Josef Mengele, SS-Hauptsturmführer Erich Priebke oder der „Schlächter von Lyon“, Klaus Barbie, aus Europa nach Südamerika geschleust wurden, hieß im Geheimdienstjargon „Ratline“, also „Rattenlinie“. So heißt auch das Buch des britischen Juristen und Autors Philippe Sands über einen österreichischen Kriegsverbrecher.

Achteinhalb Jahre lang erforschte Sands die Geschichte des SS-Offiziers Otto Wächter, auf dessen Spuren ihn die Arbeit an einem anderen Buch gebracht hatte: In Rückkehr nach Lemberg (2019) erzählt Sands nicht nur die Geschichte seines Großvaters und der Auslöschung von Teilen seiner Familie durch die Nazis, sondern auch jene des NS-Gouverneurs von Polen, Hans Frank. Dessen Sohn Niklas Frank, einen deutschen Journalisten und Buchautor, lernte Sands während der Recherchen kennen – und über ihn wiederum Horst Wächter, den Sohn Otto Wächters, der seit den 1970er Jahren in Schloss Hagenberg im Weinviertel lebt, wo die künstlerische Avantgarde, Friedensreich Hundertwasser, die Schriftsteller der Wiener Gruppe, aber auch Udo Proksch aus- und eingingen. Und dies ist nur eine von zahlreichen überraschenden Verästelungen in Rattenlinien. Ein Nazi auf der Flucht. Wächter, der auf seiner Homepage um Spenden für die Renovierung des Schlosses bittet, leugnet im Gegensatz zu Niklas Frank bis heute die Taten seines Vaters.

Dennoch ermöglichte er Philippe Sands bei seinen Besuchen auf Schloss Hagenberg Zugang zum Familienarchiv: zu Fotos, den Tagebüchern seiner Mutter Charlotte Bleckmann-Wächter und den Briefen, die sich seine Eltern von ihrem Kennenlernen 1929 bis zum Tod Otto Wächters 1949 schrieben. Briefe, die erschreckend zwei Realitäten zeigen: die kultivierte Sprache, in der plötzlich Sätze wie „Morgen muss ich wieder öffentlich fünfzig Polen erschießen“ zu lesen sind. Sands erkennt in dem Archiv, das Horst Wächter mittlerweile dem Washingtoner Holocaust Memorial Museum übergeben hat, wo es digital zugänglich gemacht wurde, eine einzigartige Quelle über das Leben einer glühenden österreichischen Nazi-Familie. Sands komponiert die Begegnungen mit Horst Wächter und Details aus dem Archiv zu einer spannenden Reportage über Otto Wächters Fluchtversuch über die Berge nach Italien. Damit konnte er sich zwar der Gerichtsbarkeit entziehen. Doch ehe er die Weiterreise nach Argentinien antreten konnte, starb er in einem vatikanischen Spital in Rom. Den Verdacht Horst Wächters, dass sein Vater womöglich von einem jüdischen Rachekommando vergiftet worden sei, konnte Sands entkräften. Sands erzählt auch über Horst Wächters Tochter Magdalena, die auf Friedensreich Hundertwassers berühmtem Schiff „Regentag“ das Licht der Welt erblickt hatte. Wächter arbeitete für Hundertwasser, weil er „einem Juden dienen wollte“.

Mit all diesen Verzweigungen zeichnet Die Rattenlinie eine bestürzende und gleichzeitig komplexe Abbildung einer Familie, ihrer engen Verflechtung mit dem Nationalsozialismus, der späteren Schuldabwehr und der Traumatisierung der aktuellen Generation.


Philippe Sands
Die Rattenlinie – ein Nazi auf der Flucht: Lügen, Liebe und die Suche nach der Wahrheit
S. Fischer, Frankfurt/Main 2020
544 S., EUR 25,70

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