Ein soeben erschienenes Buch erzählt die lange Geschichte des Mattersburger Schtetls.
Von Wolfgang Weisgram
Mattersdorf – bis 1924, bis zur kühnen Idee, burgenländische Hauptstadt werden zu wollen, hieß Mattersburg so – Mattersdorf war mehr als nur ein Schtetl. Seine über Generationen wohl gepflegte Gelehrsam- und Frömmigkeit machten es zu einem „Klein-Erez-Israel“, wie der Historiker und Journalist Leopold Moses augenzwinkerte. Ja – und das hat Theodor Waldinger, der Bruder des Lyrikers Ernst, wohl nicht augenzwinkernd gemeint – Mattersdorf war „eine Theokratie: eine jüdische Gemeinde, die auf Gedeih und Verderb dem Diktat des zelotoischen Rabbiners Samuel Ehrenfeld unterworfen war“.
Die Mattersdorfer Jeschiwa strahlte weit aus in Europa, das sich Schritt für Schritt entfernt hatte von der Orthodoxie. „Die Wiener Aguda“, schrieb 1924 die Jüdische Presse, die der 1912 in Polen gegründete orthodoxen „Agudas Israel“ nahestand, „schickt ihre Kinder hin, um dort an der Jeschiwa das zu erhalten, was ihnen die Großstadt nicht bieten kann: alte jüdische Gelehrsamkeit und alte jüdische Lebensweise.“
Diese Zitate – und noch viel mehr – finden sich in der unlängst erschienenen Monographie über die Jahrhunderte währende jüdische Geschichte des burgenländischen Mattersburg, das nicht nur Teil der Schewa Kehilloth war, sondern eine Art geistliche Hauptstadt dieser „heiligen“ sieben Gemeinden, die der Herrschaft der Esterházy untertänig gewesen sind. (Neben Mattersdorf waren das Eisenstadt/Asch, Kittsee, Kobersdorf, Lackenbach, Deutschkreutz/Zelem, Frauenkirchen).
Bilder aus der Judengasse
Mit vielen Dokumenten und Zeitzeugenberichten unterlegt, erzählt die Autorin Gertraud Tometich die Geschichte des jüdischen Mattersburg, das sich urkundlich bis ins Jahr 1526 zurückverfolgen lässt. Illustriert mit zum Teil noch nie veröffentlichen Bildern, spannt das Buch von da den weiten Bogen über die Katastrophe des Jahres 1938 hinaus. Unter der Führung ihres Rabbiners – seit 1931 auch Träger des Goldenen Verdienstkreuzes der Republik – blieben die Burgenländer auch in New York beisammen; wovon auch der Mattersburger Arzt und Autor Richard Berczeller erzählte. Der Sohn von Samuel Ehrenfeld, Akiva, gründete dann in den frühen 1960er-Jahren das Kiryat Mattersdorf in Jerusalem, über das seit dessen Tod im Vorjahr Sohn Isaac wacht.
Tometichs Buch besticht aber nicht nur durch die Vielfalt und Fülle der zusammengetragenen Fakten und historischen Geschichten. Das Buch schafft es vor allem, das alltägliche Leben anschaulich zu machen. Zahlreiche Bilder aus der Judengasse zeigen das rege Geschäftszentrum des Bauernlandes am Fuß der Rosalia. Die uralten Mattersdorfer Namen – Schotten, Hirsch, Schön, Gelles, Brandl und viele andere mehr – bekommen endlich wieder persönliche Geschichten und damit Gesichter.
Ihrem Nachwort – in dem sie über ihre Begegnung mit Akiva Ehrenfeld in Mattersdorf erzählt – stellt Gertraud Tometich bewusst ein Zitat ihrer Tochter voran: „Es hält in keiner Hinsicht und keiner Weise auch nur annähernd einem Vergleich stand, was der jüdischen Bevölkerung genommen wurde, doch auch mir hat man etwas genommen: Ich bin in Mattersburg zur Schule gegangen – ich hatte nie die Möglichkeit, mit jüdischen Mitschüler in einer Klasse zu sitzen, mit ihnen befreundet zu sein, ihre Lebensweise, ihre Kultur kennenzulernen.“
Gertraud Tometichs Buch, so lässt es sich wohl sagen, versucht anhand des kleinen Schtetls zu zeigen, wie vieles und was genau – nein, anders: wie viele und wer genau – dem Stadterl Mattersburg verlorengegangen sind.
Gertraud Tometich
Als im Burgenland noch das Schofarhorn ertönte:
Die Geschichte der jüdischen Gemeinde von Mattersburg und Umgebung
Edition Marlit, März 2013
206 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 25 EUR