Zwei Fotobände zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz: Eine historische Spurensuche und irritierende Nahaufnahme.
Als Lili Jacob im April 1945, in der Nacht ihrer Befreiung aus dem KZ Mittelbau-Dora, ein Fotoalbum an sich nahm, weil sie darin Aufnahmen ihrer Familie, von Bekannten und dem Rabbi ihres Heimatortes entdeckte, ahnte die 19-Jährige nicht, welch historisch brisantes Dokument sie in Händen hielt. Denn Jahre später sollte ausgerechnet dieser Band ein wertvolles Beweismittel der Anklage bei Auschwitz-Prozessen sein: Viele SS-Schergen wurden dadurch ihrer Täterschaft überführt. Für zahlreiche Angehörige von Opfern des NS-Regimes wurde es ein Zeugnis schrecklicher Gewissheit.
Schoa-Experte Tal Bruttmann und die Historiker Stefan Hördler und Christoph Kreutzmüller recherchierten Entstehung und Überlieferung des Objekts. Fünfzehn Exemplare des 197 Fotos enthaltenden, lapidar „Umsiedlung der Juden aus Ungarn“ (ein Tarnbegriff für die systematische Erfassung, Deportation und Ermordung der jüdischen Bevölkerung) benannten Buches existierten, für das eigens engagierte SS-Fotografen die mörderischen Abläufe im KZ Auschwitz über die „effiziente Verwertungskette“ dokumentiert hatten. Einer von ihnen ließ ein (wahrscheinlich privates) Exemplar in den Baracken vor seiner Flucht zurück, um kein belastendes Beweismaterial bei sich zu haben.
Die Fotoalben in exklusiver Ausführung wurden für hohe Militärs und Politiker produziert: Heinrich Himmler, Ernst Kaltenbrunner, Heinrich Müller und Adolf Eichmann waren Besitzer der Bände, ebenso SS-Brigadeführer Edmund Veesenmayer, der als deutscher Gesandter in Budapest für die Deportationen zuständig war, Albert Speer und die Lagerkommandanten von Auschwitz, Richard Baer, Josef Kramer und Heinrich Schwarz. Selbstverständlich besaß auch Rudolf Höß, der die Meriten des Massenmordes voll Stolz für sich beanspruchte, eines der in Leder gebundenen Luxus-Exemplare. Die Fotos zeigen detailliert und nach Kapiteln strukturiert: Ankunft der Transporte, Aussortierung, Einteilung in Arbeitsfähige und nicht mehr Einsatzfähige, Entlausung, Einweisung ins Arbeitslager und „Effekten“. Zwei Fotos fügte Lili Jacob später eigenhändig hinzu: Sie zeigen Krematorium und Krematoriumsgebäude mit Schornstein. Im Jahr 1980 schenkte sie das Exemplar der Gedenkstätte Yad Vashem. Die Fotografien haben sich in das kollektive Gedächtnis eingebrannt.
Die akribische Detektivarbeit des Historikerteams brachte zahlreiche neue Erkenntnisse bezüglich Transport, Deportation und Ermordung. Gerade in der Beiläufigkeit, in der aufwändigen, hübschen Gestaltung – als wären es schöne Erinnerungen – ist das Album ein entlarvendes Dokument des Schreckens, ein Monument der Abgründe.
Maske und Mimik
Der in Europa wenig bekannte, in den USA prämierte Fotograf Martin Schoeller hat für Survivors. Faces of Life after the Holocaust 75 Holocaust-Überlebende in Israel fotografiert. Die Ausstellung unter diesem Titel ist bis zum 26. April im UNESCO-Welterbe Zollverein in Essen zu sehen.
Schoeller war drei Jahre Assistent bei Annie Leibovitz und machte sich mit seinen Close-up-Porträts von Prominenten, die u.a. im New Yorker, Time und National Geographic erschienen, einen Namen. Das Interessante und gleichzeitig Irritierende an Schoellers Porträts ist der strenge Formalismus. Schoeller verwendet stets dieselbe Technik: Er misst die Augenhöhe seines Gegenübers und bringt dann die Kameralinse exakt auf gleiche Höhe. Statt eines Kamerablitzes verwendet er weiches Neonlicht. Über seine Arbeitsweise sagt er: „Ich behandle sie alle gleich, ob Promi, Freund oder Obdachloser von der Lower East Side. Sie kriegen dasselbe Licht, denselben Hintergrund, dieselbe Kamera, dieselbe Behandlung.“
Das funktioniert bei Politikern und Staatsmännern vorzüglich, indem der Eindruck erweckt wird, dass hier kalte Machtmenschen hinter einer glatten Fassade entlarvt werden. Diese reine Dokumentation der bewusst emotionslosen Mimik, dieses Kategorisieren und Katalogisieren erzeugt jedoch gerade bei Überlebenden, bei Opfern des Holocaust, etwas zutiefst Befremdliches. Es besteht die Gefahr, dass der starre Formalismus die eigentlich positive Intention konterkariert, indem er keinen wirklichen, tiefschürfenden Blick in die Seele der Porträtierten erlaubt. Das Unaussprechliche bleibt unausgesprochen. Das Unbegreifliche bleibt unbegreiflich.