Die Juden im Marais, dem jüdischen Viertel von Paris, sind eingeschüchtert. Aber sie verlassen nicht den geliebten Stadtteil, wo in Restaurants und Cafés noch Jiddisch gesprochen wird.
Bao (das Juwel), Hua (die Blume) und Nian (die Wissende) sind 19, 20 und 21 Jahre alt, kommen aus Chengdu in Zentralchina, studieren Architektur und Design in Rotterdam und verbringen die Weihnachtstage in Paris. In ihrem chinesischen Reiseführer haben sie gelesen, dass es im Marais, dem alten jüdischen Viertel, die besten Falafel geben soll. Die drei jungen Frauen sind begeistert. Es schmecke „wonderful“, sagen sie, allein wegen dieser Köstlichkeit habe sich die weite Reise hierher gelohnt. Niemand, der die Rue des Rosiers je besucht hat, wird bestreiten, dass die Falafel, die dort angeboten werden, wirklich gut sind. Die Frage ist nur: Wo gibt es die besten? Bei Chez Hanna, gleich an der Ecke zur Rue du Temple, nebenan bei Chez Marianne, ein paar Häuser weiter bei L’As du Fallafel oder gegenüber bei Mi-va-mi?
Den Menschenschlangen vor den Lokalen nach zu urteilen, müsste es „L’As du Fallafel“ sein. Nicht wegen dem Doppel-L im Namen, sondern weil es koscher ist. Was bedeutet, dass es am Samstag geschlossen hat, was wiederum die unkoschere Konkurrenz freut, denn gerade an Samstagen strömen tausende von Touristen ins Marais, um die „jüdische Atmosphäre“ des Viertels zu erleben. Auch für das Marais gilt, was den Charme jüdischer Quartiere in Krakau, Lemberg, Prag oder Toledo ausmacht: Je weniger Juden, umso größer das Interesse an jüdischer Geschichte und Lebensart. Jüdische Kultur gedeiht dort am besten, wo Juden früher gelebt haben.
Im Marais, rund um die Rue des Rosiers, waren es vor 20 Jahren noch einige tausend, heute sind es höchstens einige hundert. Man hat sie nicht vertrieben, sie mussten der Gentrifizierung weichen. Die alten Häuser wurden saniert, die kleinen Läden und Werkstätten machten eleganten Boutiquen und Designerläden Platz. Ein ganz normaler Vorgang in jeder großen Stadt.
Wir laufen nicht davon
Dennoch ist der Terroranschlag auf das Restaurant Goldenberg, begangen am 9. August 1982 von Angehörigen einer Organisation, die sich von der PLO abgespalten hatte, nicht vergessen. Die Gedenktafel über dem ehemaligen Restaurant erinnert daran. Das „Goldenberg“, an der Ecke Rue des Rosiers und Rue Ferdinand Duval, war eine Pariser Institution. Man saß unbequem, das Essen war nicht besonders gut, die Bedienung übellaunig – aber man musste es besucht haben. Wie die Coupole oder das Café Les Deux Magots. Der Anschlag, bei dem sechs Menschen getötet und 22 verletzt wurden, war der blutigste, der seit 1945 in Frankreich auf ein jüdisches Objekt verübt wurde.
Der Anschlag veränderte die Stimmung im Marais. Jo Goldenberg, der Besitzer, machte zwar unbeirrt weiter, auch kamen wieder Gäste, doch der gefilte Fisch, die Latkes (Kartoffelpuffer) und die gehackte Leber schmeckten anders als davor. Heute erinnert nur die alte Markise über dem Eingang daran, dass das Goldenberg ein jüdisches Spezialitätenrestaurant war, bevor eine Kleiderboutique in das Lokal einzog.
„Meine Mutter hat Glück gehabt, sie ist bei dem Anschlag mit dem Leben davongekommen“, sagt Alain Korcarz, der 1952 in der Rue des Rosiers geboren wurde. Seine Eltern waren polnische Juden, sie hatten den Krieg unter abenteuerlichen Umständen überlebt und einander in Paris kennengelernt. Nach der Heirat eröffneten sie in der Rue des Rosiers 29 ein kleines Café. Das zum Treffpunkt polnischer Exilanten wurde, Juden wie Nichtjuden.
Der Sernik (Käsekuchen), der Makowiec (Mohnstrudel) und der Jablecznik (Apfelkuchen) schmeckten wie einst daheim in Łódź. Madame Korcarz buk die Kuchen und brühte den Kaffee, während Monsieur Korcarz mit den Gästen parlierte. Im Laufe der Jahre wurde das Café ausgebaut und die Speisekarte erweitert. Am Tag des Attentats lieferte Frau Korcarz gerade eine Bestellung beim Goldenberg aus, als plötzlich neben ihr Handgranaten explodierten und Kugeln durch die Luft pfiffen. Von ein paar Kratzern abgesehen, blieb sie unverletzt.
„Ich weiß genau, was Sie von mir hören wollen“, sagt Alain Korcarz, „dass wir Angst haben und auf gepackten Koffern sitzen. Ja, wir haben Angst, aber wir laufen nicht davon.“ Allerdings, von seinen drei Kindern ist nur der Sohn in Paris geblieben, eine Tochter lebt in den USA, die andere in Israel. Sie sind zu ihren Männern gezogen. Auch Liebesheiraten können positive Nebenwirkungen haben.
„Natürlich machen wir uns Sorgen, aber was können wir machen? Alles aufgeben und weggehen? Kommt nicht in Frage.“ Louise wurde „nach dem Krieg“ in Paris geboren, das Jahr mag sie nicht verraten, und einem Gespräch hat sie nur unter der Bedingung zugestimmt, dass ihr Familienname nicht genannt wird und keine Fotos gemacht werden. Es gebe in Frankreich ein großes Interesse an „jüdischen Themen“, sagt Louise, jede Woche kämen neue Bücher auf den Markt. Es gebe aber auch eine Kehrseite dieses Interesses: Ihre Söhne würden die Kippa unter Mützen verstecken und möglichst nicht mit der Metro fahren, schon gar nicht in den Abendstunden. Es sei zu gefährlich geworden. Dennoch könne man die Situation im heutigen Frankreich nicht mit der in Europa in den 1930er und 1940er Jahren vergleichen. Der Grund liege 3000 Kilometer entfernt. „Damals gab es kein Israel.“
Die Juden im Marais seien keine Zionisten, nicht einmal im ironischen Sinne: „Ein Zionist ist jemand, der einen Zweiten mit dem Geld eines Dritten nach Palästina schickt.“
Man spricht Jiddisch
„Ich bin kein französischer Jude, ich bin ein jüdischer Franzose“, sagt Gilbert Warndorfer, 1960 in Paris geboren, Sohn einer algerischen Mutter und eines österreichischen Vaters, was sowohl sein Aussehen wie seinen Namen erklärt. Der Schriftsteller und „Redakteur für Bücher“ war fünfmal verheiratet und hat fünf Bücher geschrieben, jede seiner Frauen hat ihn zu einem Buch inspiriert. Jetzt lebt er mit einer Freundin, die halb so alt ist wie er, in St.-Germain und überlegt, ob er ein neues Buch schreiben soll. Über Frauen.
Warndorfer kommt jeden Tag in das Café des Psaumes (Café der Psalmen) in der Rue des Rosiers 16 zum Lesen, Schreiben und Recherchieren, das heißt, um mit alten Bekannten zu plaudern und neue Bekanntschaften zu machen. In der Nähe gibt es eine Synagoge, die man nur daran erkennt, dass vor dem Eingang schwerbewaffnete Soldaten stehen, die jeden Passanten mit den Augen scannen.
Warndorfer ist nicht religiös, aber er möchte eine Synagoge betreten können, wenn ihm danach wäre, ohne in die Läufe von Maschinengewehren blicken zu müssen. Dennoch denkt er nicht daran, Paris zu verlassen, er könnte weder in Lyon noch in Marseille leben, auch nicht in Israel, wo er als junger Mann zwei Jahre in einem Kibbuz „Unsinn getrieben“ und dabei Hebräisch gelernt hat.
Das winzige Café des Psaumes ist ihm Heimat und Fenster zu Welt. Hier kostet der Kaffee nur einen Euro, und die besten Croissants der Welt gibt es in der Boulangerie-Pâtisserie Murciano, gleich nebenan. Und das sind schon mal zwei Gründe, warum sich jeden Sonntagnachmittag eine Gruppe älterer Damen und Herren um einen Tisch im „Psalmencafé“ versammelt. Der dritte Grund ist: Man spricht Jiddisch, die Sprache der Eltern und Großeltern.
Der Doyen der Runde ist ein kleiner, quirliger, weißhaariger Mann namens Claude Berger. Er sei, sagt er, 80 Jahre alt, es könnte aber auch sein, dass er mit 80 aufgehört hat zu zählen. Die Mutter ist kurz nach seiner Geburt gestorben, der Vater hat sich aus dem Staub gemacht, der junge Claude wuchs bei den Großeltern auf und hatte das, was man heute eine „schwierige Kindheit“ nennt, inklusive einiger Jahre im Versteck während der deutschen Besatzung.
Vor über 20 Jahren hat er als Zahnarzt zu arbeiten aufgehört, seitdem macht er das, was er schon immer machen wollte: singen. Auf seiner Visitenkarte stehen klein gedruckt die Namen der Gruppen, mit denen er auftritt. Am Ende der Sonntagssitzung im „Café des Psaumes“ steht Berger auf und stimmt mit seiner Baritonstimme ein Lied an, das im Ghetto von Wilna gedichtet und gesungen wurde.
„Wir leben ewig in jeder Stunde
Wir wollen leben
Und erleben
Und schlechte Zeiten überleben
Wir leben ewig
Wir sind da.“
Der Artikel erscheint mit freundlicher Genehmigung der Tageszeitung „Die Welt“.