Von Erwin Javor
Sie erinnern sich, in den letzten NU-Ausgaben haben wir an dieser Stelle Ein- und Zwei-Silber drangenommen. Sie beherrschen jetzt schon so wesentliche Vokabeln wie „oh“, „nu“, „oj“, „Nudnik“ oder „Mitzwe“. Weil ich nicht nur ein bescheidener, sondern auch ein höchst organisierter, systematisch und analytisch vorgehender Mensch bin, sind heute also vorerst Drei-Silber dran.
Zeit für ein weiteres, unentbehrliches Wort: meschigge! Das wird Ihnen bekannt vorkommen, denn das Wienerische hat daraus ja das beliebte meschugge abgeleitet, wie es ja auch sonst eine Reihe von Ausdrücken aus dem Jiddischen gefladert hat, wie zum Beispiel Beisl (vom hebräischen Wort beth für Haus). Aber das ist eine andere Geschichte.
Jedenfalls: Wie in den meisten anderen Sprachen stößt der Wortschatz des Deutschen an Grenzen, wenn es darum geht, die vielen Facetten des Abwegigen zu beschreiben. Man kann sagen, jemand ist verrückt, wahnsinnig, schwachsinnig oder deppert. Oder man kann sich noch ins Klinische retten und sich medizinischer Ausdrücke wie Paranoia, Schizophrenie oder anderer Krankheitsbilder bedienen. Das war’s dann aber auch schon.
Nicht so im Jiddischen. Hier haben wir, wie schon Isaac Bashevis Singer in seiner hinreißenden Nobelpreisrede anmerkte, wesentlich mehr Auswahl. Auf Jiddisch kann man noch viel mehr sein: Meschigge natürlich, zerdrejt, zerriedert, vermischt, a Mensch wus kriecht ojf die gleiche Wänd, a Zerdillter, a Zerhotzkerter, zerstrudelt oder varkaloschet, man kann auch sagen, es fehlt ihm a Klepp im Mojach (Gehirn). Diese Liste ließe sich noch beliebig lange fortsetzen, aber lernen Sie einmal das.
Die Vielfalt jiddischer Ausdrücke beschränkt sich aber natürlich nicht nur auf einen bunten Geisteszustand. Ein anderes Beispiel. Auch ein armer Mensch kann viel umfassender und differenzierter als in anderen Sprachen beschrieben werden. Man kann sagen: Hejsergeher, Medinejid, Puretz mit a loj, Schnorrer, Nevjen, Kapzn, Schlepper, Hungermann, Torbenik, er hot den Dalles, er is ojf gebrennte Zures, ojf gehackte Zures oder es gejt ihm schlimm Schlimmassel.
Wenn man wirklich bildlich mit wenigen Worten eine ganz lange Geschichte erzählen möchte kann man über den armen Mann auch sagen: Es geht ihm wie a Rusche of jenner Welt (wie einem Bösewicht im Leben nach dem Tod – der bestraft wird und dann in Armut existieren muss) oder wie a Zaddik ojf dieser Welt (wie einem heiligen Mann auf dieser Welt – dem es jetzt schlecht geht, aber der im Leben nach dem Tod Belohnung zu erwarten hat). Eine andere Variante, deren Verständnis zugegebenermaßen zumindest Basiswissen über die jüdische Religion voraussetzt, wäre die Formulierung: Es is bei ihm a ganz Juhr Pessach – er hot nischt ojf a Stickl Broit (bei ihm ist das ganze Jahr Pessach – wo Juden kein Brot essen dürfen, er hat nicht nur zu Pessach, sondern das ganze Jahr über kein Brot).
Wenn einer lang genug arm ist, hat er irgendwann vermutlich auch Schulden. Dann, wenn zwei über ihn reden, wird er vielleicht so beschrieben: Vermuggen sollen wir es bejde, wie viel es fehlt ihm zu finef Dollar (Ich wünsche uns beiden so viel Vermögen, wie ihm fehlt, bis er fünf Dollar beisammen hat.)
Sofern man beim Gebrauch dieses Ausdrucks winkt mit die Ojgen (also schelmisch blinzelt) kann man über diesen armen Mann auch noch sagen: a zweiter Rotschild – nebbach! Das ist vielleicht nicht besonders nett, aber seien Sie doch ehrlich. Das kann doch was!
* Mammeloschn (Jiddisch): Mutterwitz; Muttersprache. Aus dem Hebräischen Loschn: Zunge, Sprache.