Fritz Muliar ist mit seinen bald 85 Jahren ein vitaler Schauspieler, scharfzüngiger Kommentator der politischen Szene und begnadeter Erzähler von Schmankerln. Seine höchstpersönlichen Anmerkungen zur Geschichte sind nicht immer leicht nachvollziehbar, aber jedenfalls originell. – Erwin Javor und Peter Menasse haben ihn vor einem Auftritt auf der Burg Liechtenstein besucht.
Von Peter Menasse
Fritz Muliar lenkt seinen Wagen schwungvoll um die letzte Kurve vor der Burg Liechtenstein, erblickt seine Interviewpartner und bleibt direkt neben ihnen stehen. Die Chance auf ein Gespräch, sofort, ohne weitere Verzögerung, hält ihn davon ab einzuparken. Er stellt uns seine beiden Fahrgäste vor, einen in Österreich geborenen und von hier 1938 nach Schweden emigrierten Freund mit seiner schwedischen Frau. Und redet schon wieder weiter, heiter und ganz, ganz schnell. Ein älteres Paar kommt am Auto vorbei, die Frau dreht sich ungläubig um und starrt durch die Windschutzscheibe, unsicher, ob er es denn wirklich sei, der „Schwejk“, der „Muliar“, ihr großer Star. Der Angehimmelte reagiert unwirsch, er wachelt mit seinen Händen, als wolle er eine lästige Taube verscheuchen, und sagt in der ihm eigenen Klangfarbe: „No, wos is, gemma, gemma.“ Die Frau weiß nicht recht, wie ihr geschieht: er, der Angebetete – dann eine solche Abfuhr. Sie dreht sich nochmals verunsichert um und geht kopfschüttelnd weiter zur Burg. Hier oben, eine gute Stunde vor Beginn der Aufführung geht es Fritz Muliar wie David Beckham vor einem Länderspiel im Wembley-Stadion. Die Menschen freuen sich, ihn zu sehen, wie er da geht mit seinen 85 Jahren, beschwingt, den Stock dandyhaft wirbelnd.
Auf der Terrasse des Kaffeehauses, das wir angesteuert haben, drehen sich Köpfe, setzt ein aufgeregtes Tuscheln ein, entsteht eine kollektive Stimmung der Freude über ihren aller Volksschauspieler. Wir gehen ins Innere des Cafés und fragen ihn, ob ihm ein Platz in einer Nische recht sei. „Aber ja“, sagt Muliar, „setzen wir uns in die Nische, wir sind ja alle drei Nischlinge ersten Grades.“ Kaum sitzen wir, haben Topfenstrudel und Kaffee bestellt, macht sich Muliar Sorgen, ob es heute regnen würde. Am Tag davor hatte man die Vorstellung unterbrechen müssen und er, Muliar, sei der Meinung, man müsse in einem solchen Fall aufhören und nicht nach einer Pause weiterspielen. Unser Einwurf, die Menschen würden mit den Wetterkapriolen rechnen und Unterbrechungen mit Geduld hinnehmen, wischt er vom Tisch: „In einem normalen Sommertheater, wenn man den ersten Akt gespielt hat und es fängt an zu regnen, packt man zusammen und geht nach Hause.“ Böse sei er auf die Ott, sagt er, weil sie immer noch weiterspielen will. Sie meint, man müsse sich um jeden einzelnen Zuschauer kümmern, das ginge doch wirklich zu weit.
Fritz Muliar wird im Jahr 1919 in Wien als Friedrich Ludwig Stand geboren. Sein Vater, ein k. u. k. Offizier, hat sich um seinen unehelichen Sohn nie gekümmert. Später war er, wie Muliar in seinen Erinnerungen schreibt, „ein hervorragender Nazi, aber immer noch ein miserabler Vater“. Im Jahr 1924 heiratet seine Mutter den aus Russland eingewanderten jüdischen Goldschmied Mischa Muliar, und bald darauf verwandelt sich der kleine Junge mit Bescheid des Magistratischen Bezirksamts in Friedrich Ludwig Muliar, ein Kind, das schon in seinen frühen Jahren ein dominierendes Interesse hat: Kino und Theater. Der Bub wächst in einer sonderbaren Familienmischung aus erzkatholischer Großmutter, deutschnationalem Großvater, sozialdemokratischer Mutter und jüdischem Stiefvater auf. Die Beziehung zum Leben der Juden und sein Bekenntnis zur Sozialdemokratie sind dem alten Herrn geblieben. Die Kellnerin hat den Nischlingen inzwischen Kaffee und Strudel serviert und Fritz Muliar erzählt von der Zeit vor 1938: „Es hat einen unsäglichen Kampf, einen Kampf der Wiener Juden untereinander gegeben. Die eingesessenen, die seit 200 Jahren hier waren, darunter Juristen, Ärzte, Wissenschaftler, Literaten, haben gesagt, die mit dem Bart verderben uns unser ganzes Hiersein, weil wir mit ihnen gleichgestellt werden, und das wollen wir nicht. Man ist, wenn man nicht musste, nicht in den 2. Bezirk gegangen.“ Er selbst spricht der Assimilation das Wort: „Man muss sich anpassen, sonst kann man nicht leben. Man muss ja nicht untereinander heiraten, aber man muss miteinander leben.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Ich begehe eine Sünde: Ich mag die Deutschen nicht. Aus verschiedenen Gründen mag ich sie nicht. Sie haben mir den Vater genommen, sie haben mir das Land genommen und sie, nein, einige von ihnen, haben mich gequält und eingesperrt. Der Name des Landes, das ich liebe, durfte nicht ausgesprochen, sondern konnte nur geflüstert werden. Aber ich habe gelernt, dass ich bei der Wehrmacht ein eigenständiger Mensch sein kann, wenn ich mich anpasse. Ich kann nicht sagen, ich spiele da nicht mit. Und in Wien war es ähnlich. Man konnte nicht damit rechnen, eine große Karriere zu machen, wenn man sich mit dem Kaftan wohinsetzte. Da musste man schon ein großer Rabbiner sein, um sich so was erlauben zu dürfen. Man musste sich angleichen oder man musste unter sich bleiben. Das war der große Fehler. Sie sind unter sich geblieben und waren doch keine Russen mehr, keine Polen mehr, aber in Wien waren sie auch nicht angekommen.“ Wie es denn mit seinem Stiefvater gewesen sei, fragen wir ihn, habe der sich denn assimiliert. „Ah“, sagt Muliar wegwerfend, „nach außen hat er sich völlig angepasst. Nach außen.“ Und was er denn gesagt habe, wollen wir wissen, als er, Fritz Muliar, als 14-Jähriger der Vaterländischen Front beigetreten sei, aus „Verzweiflung“ über die Ermordung von Engelbert Dollfuß, wie wir seinen Memoiren entnommen haben. „Nix“, meint Muliar lakonisch, „das war damals die Staatspartei, sie war leicht antisemitisch, aber das war ihm wurscht. Papa hat Russland erlebt, also was soll er sich über den Starhemberg aufregen?“ Sein „Papa“ war bald nach der Hochzeit in die USA gegangen, um dort eine Karriere als Goldschmied aufzubauen. Als ihm seine Frau nicht folgte, weil sie ihre eigene Welt nicht verlassen, einen guten Job bei der Kontrollbank nicht aufgeben wollte, kehrte er nach einem Jahr wieder zurück. 1938 sollte sich der kurze Aufenthalt in den USA als Glück erweisen. Mischa Muliar konnte erneut dorthin ausreisen, wurde sehr rasch eingebürgert und über lebte den Krieg. Die Mutter folgte ihm auch diesmal nicht. Das Kind Friedrich wurde nicht gefragt, es hatte sich den Erwachsenen anzupassen. Man habe allgemein geglaubt, Hitler würde sich nicht halten und in ein paar Wochen wieder weg sein. Fritz Muliar ist an dieser Stelle gar nicht anekdotisch, sondern ernst und traurig. Den Vater hatte er erst viel später wieder getroffen und es war nichts mehr wie zuvor. Bei der Mutter zu bleiben, hieß den Vater verlassen. Das macht Schuldgefühle – auch noch, wenn man 85 wird. Heute sei Antisemitismus überhaupt kein Thema mehr, will der alte Herr uns weismachen. Er habe mit seinem Freund aus Schweden gesprochen, dort frage niemand nach der Religion. Seine eigenen Kinder würden ihm auch bestätigen, dass sie nicht über das Jüdischsein redeten, das interessiere keinen Menschen. Und er selber könne auch nicht sagen, welcher Religionsgemeinschaft seine Freunde angehörten, weil er noch niemanden danach gefragt habe.
Ein wenig kann man den Eindruck gewinnen, dass sich Muliar sein ganz eigenes, auf seine persönlichen Erfahrungen zugeschnittenes Weltbild geschaffen habe. Tag für Tag himmelt ihn ein Publikum an, wenn er böhmakelt, wenn er im jiddischen „Jargon“ witzelt, wenn er ihnen auf der Bühne trotz hohen Alters was vorhüpft. Er ist angepasst, sie lieben ihn, wo also sollte da ein Problem sein? Für die aktuelle Politik interessiert sich Fritz Muliar nach wie vor. „Ich bin zwar schon alt“, sagt er, „aber ich streite gerne. Mir macht die Lage Spaß. Ich bin nur traurig, dass meine eigene Partei nicht den richtigen Impetus findet, dass sie sich nicht so präsentiert, wie sie sich präsentieren könnte.“ Auf Nachfrage fällt seine Analyse widersprüchlich aus. Nein, es läge nicht am Parteivorsitzenden Gusenbauer, sondern an der Partei selbst. Sie sei verkrustet, verbürgerlicht und habe zu wenig Ideologie. „Um es kurz zu sagen“, wird er ganz präzise, „die Partei ist mir zu wenig links.“ Dann aber kommt er doch auf den kulinarischen Dauerbrenner der Innenpolitik zu sprechen: „Seit die Leute öffentlich Spargel essen gehen“, wettert er, „bin ich zu einem Kritiker geworden. Man setzt sich nicht mit einem jeden an den Tisch, auch nicht aus politischer Räson.“ Über die Wahl von Heinz Fischer zum Bundespräsidenten freut sich der alte Herr. Ein integrer Mann sei Fischer, einer, dem man wirklich vertrauen könne. „Wissen Sie, wenn jemand sagt, ich werde meine Jugendträume nicht aufgeben und ich werde weiterhin öffentlich sagen, dass ich Agnostiker bin, da ist es eine Beruhigung für mich, dass er trotzdem die Wahlen gewonnen hat. Und das auch trotz seiner halbjüdischen Frau. Das wurde nicht hochgespielt im Wahlkampf, aber ich freue mich, dass der alte Binder das erleben durfte, dass seine Tochter die First Lady von Österreich geworden ist.“
Muliar nippt immer noch an seinem Kaffee und auch sein Topfenstrudel wird nur langsam, Brösel für Brösel, kleiner. Er zieht seinen Strudel hin, wie den sprichwörtlichen Strudelteig, weil er ständig erklärt, redet, unterbricht, unterhält. Er sei ja ein Kreisky-Fan gewesen, wollen wir ihn mit einer Information aus seinen Memoiren nochmals ein Stück zurück in die Geschichte der Zweiten Republik verführen. Muliar lacht: „Ganz anders“, sagt er, „der Kreisky war ein Muliar-Fan, das ist ein Riesenunterschied.“ Von den früheren Politikern habe ihm Figl besonders gefallen, ein paar Kommunisten, Linkssozialisten und dann fällt ihm der junge Erwin Lanc ein, der gesagt habe: „In meinem Bezirk gibt es keine Neonazis, weil die haben wir schon alle zusammenghaut.“ Heute, meint er dann sinnierend und plötzlich gar keinen Spaß mehr kennend, gefiele es ihm nicht mehr, heute sei alles so radikal, aber gleichzeitig auch völlig verlogen: „Wenn der Herr Volksanwalt Stadler ein Deutschnationaler ist und Freude daran findet, über irgendwelche Sonnwendfeuer zu hupfen, soll er es tun. Wenn er nebenbei gläubiger Katholik ist – was ich nicht verstehen kann, wie man das nebeneinander sein kann, weil Humanismus, Menschenliebe und Brüderlichkeit wird ja bei den Deutschnationalen nicht sehr groß geschrieben -, nehme ich ihm das auch noch ab. Warum er aber dann seine krausen nationalen, sozialen Ideen hinter diplomatischem Gesäusel verbirgt, begreife ich nicht. Ich habe gerne, wenn man offen miteinander umgeht.“ Und er erzählt uns, dass er von Zeit zu Zeit, wenn auch selten, mit Andreas Mölzer zusammenträfe. Die beiden hätten sich früher wechselweise vor Gericht geklagt, bis eines Tages der FPÖ-Politiker bei ihm angerufen habe. Sie hätten sich getroffen und er, Muliar, habe zu ihm gesagt, dass ihm seine Ideen so unsagbar fremd wären. Die beiden seien dann ins Reden gekommen und Mölzer hätte bei allen ihren Gesprächen einen Vorzug bewiesen, er habe ihn nie angelogen. „Wenn einer heute kommt und sagt, ich bin ein Anhänger Hitlers, bleibt es mir unbenommen, ihn anzuspucken und wegzugehen. Aber ich muss zugestehen, der traut es sich wenigstens, die Wahrheit zu sagen. Die andern behaupten, sie hätten mit diesen Ansichten nichts zu tun – aber die Autobahn habe er doch gebaut. Da sind mir Leute wie Andreas Mölzer deutlich lieber als andere Andreasse, die das Gleiche hinter dem Schutzschild der Monstranz in anderen Worten sagen. So was gefällt mir nicht, denn ich habe das Neue Testament zu lange gelesen, studiert und ausgelegt, um zu wissen, dass das nicht geht.“
Der Strudel ist bis auf das letzte Futzerl aufgegessen, die Zeit zur Vorbereitung auf die Vorstellung gekommen. Er möge uns doch noch ein paar Schmankerln aus seinem Leben erzählen, bitten wir ihn, etwa die größte Peinlichkeit, die ihm je widerfahren sei. Er wäre sein ganzes Leben lang von einem Fettnäpfchen ins nächste gehüpft, lacht Muliar, aber manche hätten sich am Ende als Heilbäder seines Schicksals erwiesen. „Als ich noch bei der Arbeiter-Zeitung geschrieben und dort viel zu wenig verdient habe, ließ ich mich vom katholischen Volksblatt engagieren, um Hausfrauen-Nachmittage zu moderieren. Rudi Buchbinder hat da gespielt, als Kind noch und so weiter. Eines Tages sind mir die ganzen Weiber total auf die Nerven gegangen, da bin ich hinausgegangen und habe gesagt: ‚Ich begrüße Sie im Namen der Arbeiter-Zeitung.‘ Da haben sie mich gleich hinausgeschmissen.“ Er habe sich seine Fettnäpfchen immer selber gemacht, sagt er uns nicht ohne Stolz: „Ich bin für den Friedensrat eingetreten, das war eine kommunistische Organisation. Für die bin ich sammeln gegangen im Simpl. Der Farkas hat den Baruch Picker, den Besitzer des Simpl, gefragt, warum er mir denn Geld für den kommunistischen Friedensrat gebe. Da habe Picker geantwortet: ‚Mir hat er gesagt, er brauche Geld für das österreichische Riesenrad.'“
Langsam gehen wir über die Terrasse des Kaffeehauses zur Burg zurück. Der alte Herr schlendert gelassen, unbeeindruckt von den ihn anhimmelnden Theaterbesuchern, unbeeindruckt auch von der nervös auf ihn wartenden Regieassistentin. Zuerst muss er seinen schwedischen Freunden noch Eintrittskarten organisieren, dann wird er sich schminken lassen. Und ärgern wird er sich höchstens, wenn es wieder regnet und die Ott die Leute nicht heimschickt, obwohl sie doch ohnehin schon den ersten Akt gesehen haben.
Buchhinweis:
„Melde gehorsamst, das ja!
Fritz Muliar – Meine Lebensabenteuer“
Aufgezeichnet von Renate Wagner und
Volkmar Parschalk
Styria 2003
ISBN 3-222-13129-5