In den vergangenen Jahrzehnten ist einer wachsenden Gruppe die Fähigkeit abhandengekommen, andere Meinungen zu ertragen und Menschen mit anderer Meinung mit Respekt zu begegnen.
Von Heiko Heinisch
Wann haben Sie sich das letzte Mal ernsthaft mit den Argumenten eines Menschen auseinandergesetzt, der eine grundsätzlich andere Meinung vertritt als Sie? Wer durch alte Aufnahmen des legendären Club 2 im ORF aus den 1980er Jahren stöbert, wird überrascht sein, denn die Frage „Mit Rechten reden?“ war damals offensichtlich noch kein Thema. Da diskutiert die SPÖ-Politikerin Ingrid Smejkal mit bekannten rechtsradikalen Skinheads oder die Ikonen der 68er, Rudi Dutschke und Daniel Cohn-Bendit, mit dem rechtskonservativen Journalisten Matthias Walden. Es ging oft hart zur Sache und Eklats waren keine Seltenheit, aber das allgemeine Klima war von der Bereitschaft geprägt, sich im öffentlichen Streit mit Argumenten zu schlagen. Anders als heute waren sich die Beteiligten offenbar noch bewusst, dass das politische Spektrum von rechts bis links – hier sind nicht die extremistischen Ränder gemeint – reicht und man auch und gerade in einer Demokratie auf einer Bühne nicht nur mit dem Kontrahenten, sondern vor allem für das Publikum diskutiert. Dieses gedachte man noch nicht mit Moralismus und Empörung, sondern mit Argumenten zu überzeugen.
In den vergangenen Jahrzehnten ist einer wachsenden Gruppe die Fähigkeit abhandengekommen, andere Meinungen zu ertragen und in Anders-Meinenden Menschen zu sehen, die als solche Respekt verdienen. Von allzu vielen werden andere Meinungen und die für sie vorgebrachten Argumente nicht mehr als Herausforderung oder auch als Verpflichtung betrachtet, die eigenen Argumente zu schärfen, vielleicht auch einmal in Frage zu stellen, sondern als Zumutung. Menschen, die andere Meinungen vertreten, werden schnell zum Feind, mit Verachtung gestraft, abgewertet und diffamiert. Wer die Corona-Maßnahmen auch nur kritisch betrachtet, läuft Gefahr, als „Covidiot“ bezeichnet zu werden, der Menschenleben gefährde; wer gegen den UN-Migrationspakt argumentiert – und sei es auch mit klassisch linken Argumenten –, ist ein „Nazi“; wer nicht in den Chor einstimmt, der Lisa Eckhart und Dieter Nuhr rechter Gesinnung bezichtigt, dem wird eine solche unterstellt. Kurz gesagt sind es heute immer weniger die Argumente, die den öffentlichen Diskurs bestimmen, als Moralkeulen.
Ich weiß, wer du bist
Wer eine andere und damit „falsche“ Meinung vertritt, kann folgerichtig – so der Tenor – auch keine richtigen Argumente haben. Ein einfältiger oder besser gesagt bequemer Zirkelschluss, der Denken und Argumentieren durch Gefolgschaftstreue ersetzt. Dieser Trend wird auch durch die sozialen Medien ausgelöst und verstärkt, wo missliebige Meinungen und Personen durch wenige Klicks im wahrsten Sinne des Wortes ausgeblendet werden können. In den dort entstehenden Meinungsblasen kursieren in weiterer Folge Listen mit Namen von Personen, die Personen folgen, die „falsche“ Meinungen vertreten – ganz nach dem Motto „Sage mir, wem du auf Twitter folgst, und ich sage dir, wer du bist“.
In diesen Meinungsblasen richten sich immer mehr Menschen gemütlich ein und kommunizieren ausschließlich mit jenen, die ohnehin der gleichen Meinung sind, vornehmlich über jene, die anderer Meinung sind. Nichts gegen Wohlfühloasen, wenn es denn welche wären und nicht vielmehr totalitäre Räume, in denen einige wenige die „richtige“ Meinung zu aktuellen Themen vorgeben. Widerspruch wird nicht geduldet. Wer dazu gehören will, muss zustimmen, sonst drohen Liebesentzug oder Verbannung.
Ende der Diskussion
Die Meinungsblasen erzeugen Konformität nach innen und treten nach außen geschlossen auf. Wen die Meinungsführer zum Abschuss freigeben, den trifft der Shitstorm der Follower. In linken Blasen wird mittlerweile nahezu jede abweichende Meinung als rechts bezeichnet, und unter rechts versteht man dort in der Regel rechtsextrem. Ende der Diskussion. – Und vice versa in den rechten Blasen.
Die Demokratie basiert darauf, dass sie von einer qualifizierten Mehrheit getragen wird, die akzeptiert, dass zu jedem Thema ein Spektrum an Meinungen existiert und dass Entscheidungen sich aus dem Streit der Meinungen und anschließenden Kompromissen entwickeln. Mit dem Verlust der Fähigkeit, die Argumente politischer Gegner auch nur anzuhören und sich mit ihnen auseinanderzusetzen, wird ihr nach und nach die Grundlage entzogen. Wer nicht mehr miteinander redet, wird im Extremfall aufeinander schießen.