Eine persönliche Annäherung an die älteste jüdische Zeitung, den Jewish Chronicle, die von so vielen Menschen gelesen wird, dass sie mit Fug und Recht als das „Zentralorgan des britischen Judentums“ gelten darf.
Von Axel Reiserer, London
Wenn ich am Freitagabend nach Hause komme, liegt im Postkasten bereits die jüngste Ausgabe der britischen Wochenzeitung „The Jewish Chronicle“. Hier erfahre ich, dass die Großtante der Schwiegermutter des Onkels des Mittelstürmers von Haroldeans, der im Spiel der Dritten Liga das einzige und daher auch völlig unbedeutende Tor zum 1:7 gegen Hendon United geschossen hat, eine litauische Jüdin ist, der 1944 die Flucht aus dem Ghetto von Vilnius gelang. Hier lerne ich dank einer wöchentlich am Fuß derselben Sportseite geschalteten Anzeige von ausgesuchten Hässlichkeiten des Sanitärgewerbes, dass BBC noch eine zweite Bedeutung haben kann, nämlich British Bathroom Centre. Seit ich in London lebe, lese ich den Jewish Chronicle regelmäßig. Verlässlich finde ich Freitagnacht mein Exemplar in der Post. Ich möchte es nicht missen. Der Jewish Chronicle stiftet jüdische Identität. Die seit 160 Jahren erscheinende Zeitung, die im vergangenen Jahr als „Weekly Newspaper of the Year“ ausgezeichnet wurde, beansprucht mit Recht für sich, die Stimme des britischen Judentums von orthodox bis liberal und von konservativ bis progressiv zu sein. Das Verhältnis von verkaufter Auflage zur tatsächlichen Leserzahl erinnert an den alten Witz vom Leser, der in einem empörten Leserbrief schreibt: „Wenn Sie noch einmal einen solchen Unfug berichten, werde ich mir Ihre Zeitung nie wieder ausborgen.“ Der stellvertretende Chefredakteur Jeff Barak schätzt gegenüber NU die tatsächliche Leserzahl auf 160.000 bis 200.000 pro Woche bei einer tatsächlich verkauften Auflage von bloß 40.000 Stück. Als sein inhaltliches Ziel nennt er, „eine seriöse und ernst zu nehmende Zeitung für die britischen Juden zu machen“. Bedenkt man, dass sich im Jahr 2001 bei der jüngsten Volkszählung 267.000 Personen als jüdisch bezeichneten (von denen fast 75 Prozent in London leben), ist die Leserzahl des Jewish Chronicle mehr als beachtlich. Tatsächlich ist die Zeitung so etwas wie das Zentralorgan des britischen Judentums.
Der Historiker David Cesarani, Autor eines Standardwerks über den Jewish Chronicle, sagt im Gespräch mit NU: „Die Zeitung ist fundamental in der Herausbildung der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung des britischen Judentums gewesen. Sie war wie ein Fenster, durch das die britischen Juden die jüdische und die nicht-jüdische Welt sehen konnten. Bis heute ist sie ein offenes Forum für die Diskussion aller wichtigen Fragen des jüdischen Lebens und der jüdischen Identität.“
Das Schicksal von Israel ist dem Jewish Chronicle ein besonders wichtiges Anliegen. Dabei nimmt die Zeitung eine klare Position ein. Die Berichterstattung der BBC wird im Einklang mit der Regierung in Jerusalem heftig und oft auch unfair kritisiert. Dass Israel international eine schlechte Presse hat, wird zuallererst perfiden Manipulationen der Palästinenser, nicht seinen eigenen Taten zugeschrieben. Jeff Barak meint dazu abwehrend, er habe zu viel Arbeit, um diese Frage in der Kürze eines Interviews zu diskutieren. David Cesarani hingegen gibt zu bedenken: „Die Nahostberichterstattung des Jewish Chronicle entspricht dem, was man von einer jüdischen Zeitung zu erwarten hat. 95 Prozent der Juden identifizieren sich sehr eng mit Israel und sehen ihre Zukunft mit jener des Landes verknüpft. Verglichen mit der US-Presse ist der Jewish Chronicle geradezu bemerkenswert offen und kritisch. Die Zeitung bekämpft entschieden die einseitige Berichterstattung in der britischen Presse und die als Kommentare getarnte anti-israelische und anti-jüdische Propaganda.“
Im Irak-Krieg steht die Zeitung fest an der Seite der Befürworter der Militärintervention der USA und der Okkupation. Jene 52 Diplomaten, die in einem beispiellosen Schritt die Politik des britischen Premierministers Tony Blair kürzlich heftig kritisiert hatten, wurden umgehend per Aufmacher als „appeasers“ (Vertreter einer Beschwichtigungspolitik, die allein den Aggressoren zugute kommt) diffamiert. Ein schlimmerer Vorwurf ist im Lande Neville Chamberlains, zumal in einer jüdischen Zeitung, wohl nur schwer zu erheben.
Am interessantesten ist der Jewish Chronicle auf seinen Meinungsseiten. Führende Kolumnisten Großbritanniens, wie David Aaronovitch, Anne Karpf, Daniel Finkelstein, Melanie Philips oder Jonathan Freedland, tragen hier ihre Auffassungsunterschiede von weit rechts bis desillusioniert links offen aus. Cesarani meint anerkennend: „Im Blatt werden auch Probleme wie Fremdenfeindlichkeit, Einwanderung und ,versteckte‘ Skandale in der jüdischen Gemeinschaft, wie Gewalt gegen Frauen oder Kindesmissbrauch, thematisiert.“
Die wahre Stärke der Zeitung liegt darin, ein Spiegel des jüdischen Lebens in London und teilweise auch im übrigen Großbritannien zu sein. Im Lokalteil lässt sich ausführlich nachlesen, was in den einzelnen Gemeinden los ist, wer heiratet, wer gestorben ist, wer Bar-Mizwa feiert, wer ein Fest veranstaltet, wo Hebräisch unterrichtet wird, wo man jüdisch kochen lernen kann, wo sich eine Musikgruppe formiert hat, wo noch Freiwillige („Anfänger willkommen“) gesucht werden und vieles mehr. Hier lebt, liebt, feiert, arbeitet, trauert die Gemeinschaft, hier findet sie ganz einfach statt.
Das jüdische Leben in London pulsiert, und es ist im Gegensatz zu Österreich eine Selbstverständlichkeit. Es gibt Dutzende Synagogen in London, das Judentum läuft hier als eine Religion unter vielen anderen. Es existiert auch Antisemitismus in der britischen Gesellschaft, aber es gibt keine exklusive Feindzuordnung gegen die Juden im Allgemeinen. Ein Jude in London zu sein, bedeutet auch etwas ganz anderes als in Wien mit seinem bedrückenden, unterdrückenden katholischen Mehrheitsglauben. Die jüdischen Gemeinden leben, und sie verstecken sich nicht. Meine Freundin J. feiert ihre Hochzeit als Big Fat Jewish Wedding mit größtmöglichem Aufwand und Pomp. Meine Freundin M. besucht einen Vorbereitungskurs für ihren Übertritt zum Judentum. Mit meinem Freund L. reiße ich geschmacklose Witze über jüdische Paranoia, sein Sohn beendet trotz kalifornischer Herkunft die Deutsche Schule London als Jahrgangsbester. Und von diesem vielfältigen, selbstbewussten Leben erzählt der Jewish Chronicle Woche für Woche.
In Wien gibt es kein jüdisches Leben jenseits des Holocaust. Für Opfer wie Täter. Man kann nicht in Österreich geborener Jude sein, ohne Angehörige zu haben, die Nazi-Opfer wurden, und inmitten der Nachfahren der Täter leben. Immer ist es eine große Geschichte des Verlustes. Im britischen Judentum ist der Holocaust als schrecklichstes Verbrechen der Menschheitsgeschichte ebenfalls allzeit gegenwärtig. Aber die Opfer-Täter-Geschichte ist eine andere. Die Briten haben den Holocaust nicht begangen, an den britischen Küsten fanden Menschen Zuflucht, die zum Beispiel aus Österreich vertrieben worden waren. In London kann man erfahren, welche Bereicherung für eine Gesellschaft Zuwanderung bedeutet. Von Armeniern bis Zulus lebt hier die ganze Welt auf engstem Raum – und meist friedlich. Ja, die Arbeitsbedingungen sind härter und schlechter als in Österreich. Ja, es gibt Ausländerfeindlichkeit in Bevölkerung, Medien und Politik. Doch man wird normalerweise im Londoner Alltag nicht angefeindet, weil man ein Fremder oder ein anderer ist – solange man sich behaupten kann.
Sich behaupten können, sich behaupten müssen, ist ja ein Teil dessen, was Judentum bedeutet. Ins Leben gehen, fallen und wieder aufstehen. Niemals liegen bleiben. Der Jewish Chronicle ist der Juden wöchentliche Unterstützung dabei, aufrecht und stark durchs Leben zu gehen.