Wenn es um Israel geht, bin ich befangen. Doch ich weiß um meine Befangenheit Bescheid.
Von Esther Schapira
„Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen“, hatte Theodor Herzl 1807 nach dem Zionistenkongress in Basel geschrieben. Fünfzig Jahre später war es tatsächlich so weit, aber märchenhaft war es nie. Nur die Schlussformel eines Märchens ist Realität geworden: „Wenn sie nicht gestorben sind, so leben sie noch heute“. Das Volk Israel lebt. Der Tod verhalf dem Staat zum Leben. Für einen kurzen Moment hielt die Weltgemeinschaft 1947 inne. Das Versagen, die verweigerte Hilfe, die geschlossenen Grenzen hatten Millionen ihren Mördern ausgeliefert. Wie konnte es noch einen Zweifel am moralisch und historisch legitimen Anspruch der Juden auf ihren eigenen Staat geben, in dem sie künftig Zuflucht finden würden?
„Wir sind ein Volk – der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, wie das immer in der Geschichte so war. In der Bedrängnis stehen wir zusammen, und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft, einen Staat, und zwar einen Musterstaat, zu bilden“, hatte Herzl frohlockt. Wie zufrieden wäre er mit dem Ergebnis gewesen? Ein „Musterstaat“ ist es nicht geworden, aber immerhin ist der einzige jüdische Staat eine liberale Demokratie, fehlerhaft und voller Widersprüche, so wie alle liberaldemokratischen Staaten dieser Welt.
Gleichwohl gibt es einen entscheidenden Unterschied: Keinem anderen Staat werden seine Fehler so hoch in Rechnung gestellt wie Israel. Von anderen und von sich selbst. Die Enttäuschung darüber, dass Israel den eigenen moralischen Maßstäben und den Erwartungen der Weltgemeinschaft nicht durchgängig entspricht, trägt zuweilen groteske Züge. „Ausgerechnet Israel, ausgerechnet die Juden“, tönt es vielstimmig und empört, ganz so, als ob Auschwitz eine Schule der Menschlichkeit gewesen wäre, deren Lektion die Opfer doch bitte gelernt haben sollten.
Das ist umso unverständlicher, als sonst traumatisierende Erlebnisse für mildernde Umstände sorgen. Nicht so im selbstgerechten Weltgericht gegenüber Israel. Tatsächlich haben die Juden die Lektion gelernt, dass sie jede Drohung bitterernst nehmen müssen, und sei sie für Außenstehende noch so absurd und unvorstellbar. Wenn der Reichskanzler Hitler seiner Ankündigung der „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ mit tatkräftiger Unterstützung des deutschen Kulturvolkes Massenerschießungen, Deportationszüge und Gaskammern folgen ließ, warum sollte dann die arabische Fantasie, „die Juden ins Meer zu treiben“ oder die iranische Drohung, „das zionistische Gebilde“ atomar auszulöschen, weniger glaubhaft sein?
Während ich dies schreibe, denke ich mich in Rage. Die Verweigerung der Empathie für ein Volk und sein Land, das von Anfang an um sein Überleben kämpfen musste und das noch nie erlebt hat, was für die meisten der Kritiker und Kritikerinnen selbstverständlich ist, dass es zwar Nachbarschaftskonflikte, vielleicht sogar Bürgerkriege gibt, dass die pure Existenz des Staates aber nicht infrage gestellt wird, lässt mich immer wieder zur Staatsanwältin Israels werden, die wütend die Ungerechtigkeit und Doppelstandards anklagt, mit denen dem jüdischen Staat ein ums andere Mal kurzer Prozess gemacht wird.
Und was ist mit meiner Kritik an der israelischen Politik im Umgang mit der arabischen Minderheit im Land und der palästinensischen Bevölkerung? Im geschützten Gesprächsraum in Israel und in jüdischen Gemeinschaften ist sie laut und klar vernehmbar. Auf der Bühne der Öffentlichkeit aber lauert die Gefahr, missverstanden zu werden. Sobald ich sie betrete, spüre ich diesen Reflex, leiser zu werden. Der Applaus von Freunden tut gut, der Beifall von Feinden schmerzt. Beides ist gefährlich und verführt dazu, nicht die ganze Wahrheit zu sagen. Der Talmud aber warnt: „Eine halbe Wahrheit ist eine ganze Lüge.“
Nicht immer gelingt mir der schwierige Balanceakt, weder die eigenen politischen Überzeugungen eines gerechten Miteinanders noch jenes bedrohte kleine „Vaterland“ zu verraten. Zuweilen kollidieren mein berufliches Selbstverständnis und meine private Sehnsucht. Die Journalistin in mir warnt eindringlich vor vorschnellen Urteilen, besteht auf gründliche Recherche und will genau hinsehen. Die Tochter meines Vaters wirbt um Nachsicht auch bei Verfehlungen des jüdischen Staates, sie versteht, verteidigt, verzeiht. Es stimmt: Wenn es um Israel geht, bin ich befangen.
Was mich aber von so vielen gnadenlosen Israelkritikern und -kritikerinnen in meinem Umfeld und im Netz, zumal in Deutschland, unterscheidet, ist das Wissen um meine Befangenheit. Ich gestehe sie mir ein. Ich spüre, wie mir das Herz bis zum Hals schlägt, wenn Herzls Traumland in der hässlichen Wirklichkeit erwacht.
Der Essay ist in gekürzter Fassung dem von Erwin Jabor und Stefan Kaltenbrunner herausgegebenen Buch „Israel. Was geht mich das an?“, Edition mena watch, entnommen.