Vor wenigen Wochen starb Mathilde Margules, eine Wiener Jüdin mit einer österreichisch-jüdischen Geschichte, die wie viele andere Familiengeschichten in Galizien begann, in Wien zu Erfolg führte, zur tragischen Vertreibung, zum Kampf um die Rückstellung des Geraubten und schließlich doch zu einer Rückkehr nach Österreich. Ein Nachruf von ihrem Sohn Michael.
Mutti, s.A. (seligen Andenkens)
Noch ist das Grab meiner Mutter, Mathilde Margules, geborene Spinrad, ein mehr oder minder namenloses. Sobald die Zeit gekommen ist, wird gemäß unserer Tradition darauf der Grabstein errichtet. Dabei steht, gemäß vielleicht eigenwilliger Interpretation, der Strich zwischen den beiden Ziffern für das Leben. Und dieser Strich war bei meiner Mutti ein besonders langer und durchaus auch prall gefüllt.
„Kindheit und Jugend“
Dabei war der Beginn bei meiner Mutter keineswegs ein glücklicher: Die Kindheit und beginnende Jugend endete jäh und unverschuldet am 10. Dezember 1938, als sie im Alter von 14 Jahren, an der Hand ihrer Mutter Klara, meiner Großmutter, und ihres drei Jahre älteren Bruders Hans, jüdisch Joine, die Plattform des Wiener Westbahnhofs beschritt.
„Machen sie es ihren Kindern nicht so schwer, verabschieden sie sich und gehen sie wieder nach Hause“ hallte es nicht nur an eben diesen 10. Dezember 1938 durch das Bahnhofgebäude und seinen Stegen. Deren Bahngleise begleiteten die „Tilly“, wie meine Mutter von Anfang genannt wurde, und ihrem Bruder im Rahmen von einem der so genannten Kindertransporte in das ungewisse England – wie wenige Jahre später, als allen voran die jüdische Welt untergegangen war, bekannt, bedeutete es Rettung und Freiheit.
Rückkehr nach Wien
Als meine Mutter im Jahr 1947 aus dem schon prosperierenden London in das zerstörte Wien eher widerwillig zurückkehrte, um ihre Mutter, die als U-Boot in Straßhof bei Wien über viele Jahre versteckt das Grauen irgendwie überlebte, zu unterstützen, war nichts mehr, wie es einmal war.
Die besagten drei Personen, Klara, Tilly und Hans Spinrad, waren die einzigen Überlebenden in unserer Familie mütterlicherseits. Ansonsten blieb von unseren aus Galizien stammenden Vorfahren und Verwandten, von denen etliche, so wie meine Großeltern, zur Zeit des Ersten Weltkriegs nach Wien einwanderten, nichts übrig.
Alle, insgesamt zehn Geschwister meiner Großeltern, wie auch deren Kinder oder auch Enkelkinder, waren ausgelöscht, nicht einmal die Urne mit deren Asche bliebt übrig, geschweige denn ein Grab. Dies betraf auch meinen Großvater, Wilhelm Wolf Spinrad. Der Vater meiner Mutter, den sie nur wenige Jahre und angesichts dessen Ehrgeiz auch zu Lebzeiten oft nur wenige Augenblicke erleben durfte, wurde im Jahr 1944 im Konzentrationslager Theresienstadt umgebracht.
Neubeginn und „Restitution“
Der zu guter Letzt erfolgreiche Rückkauf des Immobilienbesitzes (einzig der durch das Kriegsgeschehen zerstörte Bacherplatz fiel als herrenloses Gut der Gemeinde Wien zu respektive wurde dieses Objekt vereinnahmt) waren der unleugbaren Eigenschaften einer Kampfgelse, wie es meiner rothaarigen Mutti stets beschieden war, und den Ersparnissen meines g’ttseligen Vaters Adolfo, 1907 – 2001, zu verdanken.
Familie Margules
Während mein Onkel Hans, der die Jahre des unverschuldeten Grauens nie ganz bewältigen konnte, in England und danach in Buenos Aires, Herzlija und Miami sesshaft wurde, soweit angesichts derart vieler Standorte davon überhaupt gesprochen werden kann, wurde mir als einziger Sohn, nur wenige Jahre nach der Shoah, ein völlig behütetes, unendlich sorgenfreies Aufwachsen ermöglicht.
Federführend dabei war Mutti: sie setzte die entscheidenden Akzente, nicht nur bei humanen Werten und der so unendlich wichtigen Frage von (Aus)Bildung, sondern sie ließ instinktiv etwas zu, das ihr eigentlich völlig fremdartig und eher abwegig vorkam, während es mir unendlich viel bedeutete und bis heute mein Leben prägt: der Fußball!
„Mutti“ blieb auch immer „Mutti“, egal ob mit mir eher peinlichen, absolut eigenwilligen Hütten oder extravaganten Kleidungsstücken, die sie in der Wiener Innenstadt zu Spottpreisen erwarb – wissend, dass es den Geschäftsleuten eine Erleichterung war, wenn sie endlich die Modeboutique verließ.
Und „Mutti“ ließ auch bis zuletzt nicht locker: in früheren Zeiten rief sie mir nahezu immer ein vehement und für nahezu sämtliche Mitbewohner gut vernehmbares, unverkennbares „MICHI, komm zurück, ich habe Dir noch etwas mitzuteilen“ nach. Und dies setzte sich bis vor wenigen Wochen fort, wenn ich nach dem täglichen Besuch ihr Zimmer verließ und mich schon an der Schwelle der Eingangstüre befand, ereilte mich mit steter Regelmäßigkeit ihr Ruf: „Michi…“
Unbezahlbare Werte
Ich bin stolz darauf und fühle mich privilegiert, über all die Jahre sie nahezu täglich besucht zu haben, parallel zur Entgegenahme von ihren eh‘ „nur“ maximal fünf bis zehn täglichen Anrufen. Und Mutti, durchaus ebenso wie mein Vater in seiner viel stilleren Art – war neben seiner Frau auch anders gar nicht möglich… -, hat mir auf den Lebensweg etwas Unnachahmliches mitgegeben: sei a Mensch!
Ihr, der trotz Überlebens so völlig unverschuldet so viel genommen wurde, waren allen voran Menschlichkeit und gegenseitiges Verständnis von Bedeutung, und dabei völlig unabhängig von Abstammung und Zugehörigkeit. Genauso verhielt es sich im Alltag und dabei in ihrer mitunter eigenwilligen Rolle als Vermieterin:
Es war ihr völlig egal, ob israelischer oder arabischer, jüdisch orthodoxer oder säkular-atheistischer, Migrant oder Österreicher Mieter:In vorstellig wurden – kam ihr die Gegenseite offen und tolerant vor, wurden sie von Mutti mit Großmut und Ehrlichkeit empfangen und abgeholt.
So war sie, so war es, und es war und ist gut so.
Vorbilder und Bezugspersonen
Drei Personen nahmen in ihrem Leben eine besondere Stellung ein:
Eveline SIMET, die Tochter meiner Teta, die mir nicht nur großmütterliche Liebe zukommen ließ, sondern 1938 und 1939 als Ordensschwester mithalf, meine Familie väterlicherseits zu retten! Ihre Rolle setzte Eveline nahtlos fort, um jahraus jahrein Muttis tägliches, verbales Sperrfeuer bis zuletzt geduldig über sich ergehen zu lassen
Primar Univ. Prof. Dr. Marcus Köller, der sie über all die Jahre medizinisch im Krankenhaus Favoriten vorbildlich medizinisch versorgte – und darüber hinaus sie nahezu wöchentlich anrief, um sich nach ihrem Wohlbefinden zu erkundigen und davon abgesehen auch ihre Lebensweisheiten sichtlich in sich aufsog
Es gab auch meiner Mutter, für all die Jahre unverschuldeten Fehlens elterlicher Wärme und Gefühle, der täglichen Umarmung, dem „Bussl“ auf Wange und Stirn, von alledem etwas zurück – und dafür war sie zutiefst dankbar!
Dankbar war sie auch die Fortsetzung der Familie erleben zu dürfen: mit Dina, hebräisch „die Gerechte“, (m)einer wunderbaren Frau, und unseren Kindern, Rouven und Rebecca, wird ihr Vermächtnis an Menschlichkeit, Kampf für Gerechtigkeit und Weitsicht weiterleben.
Liebste Mutti! Du fehlst, aber Rouven hat ein Drehbuch verfasst über Aufstieg und Fall eines jüdischen Unternehmers (Wilhelm Wolf Spinrad) in Wien und Rebecca trägt mit dem gleichen und dabei unvergleichlichen Esprit einige Deiner Kleidungsstücke.
Es könnte kaum besser sein.
Dein dankbarer MICHI
Michael Margules, Unternehmer; Studium der Betriebswirtschaftslehre; die Diplomarbeit setzte seinem Großvater Wilhelm Spinrad ein Denkmal: „Aufstieg und Fall eines jüdischen Unternehmers in Wien“. Margules war Mitglied und 1983 Vorsitzender der Jüdischen Hochschülerschaft Österreichs; seit 2020 Vorstandsvorsitzender des SC Maccabi Wien, Österreichs einzigen Jüdischen Fußballverein, dessen Nachwuchs er ab 2003 aufbaute und an (s)einem Vermächtnis nahezu tagtäglich offensiv arbeitet: die eigentlich – von Seiten der Stadt Wien – längst überfällige Begründung einer Heimstätte für den SC Maccabi, nach über 50 Jahren der Wanderung…
Familie Michael Margules, väterlicherseits:
– Großvater: Karl Chaim, 1869 in Wien geboren, diente dem Kaiser und der KuK-Armee, auch im Ersten Weltkrieg. Unmittelbar danach verstarb er an den Folgen der Spanischen Grippe
– Großmutter: Lille, geboren 1873 in Galizien; sie emigrierte auf sich allein gestellt nach Buenos Aires, und nahm dabei eine Odyssee auf sich, inklusive Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn; sie verstarb in Buenos Aires im Jahr 1954
Kinder:
Adolf(o), Michaels Vater, geboren am 13. Februar 1907 in Wien, Textilkaufmann, emigrierte 1938 über Italien nach Buenos Aires, wo bei der Ausstellung der Dokumente das „o“ beim Vornamen hinzukam; Rückkehr nach Wien im Jahre 1957, Eheschließung mit Mathilde Spinrad;
Sophie, „Suse“, 1905 in Wien geboren; verheiratet mit Alexander Pollitzer aus Budapest; sie emigrierten mit den Kindern Georg und Evi 1939 nach Argentinien; Evi Pollitzer lebt seit Ende der 1950er Jahre in London, verheiratet mit Freddy Fishburn, dessen Familie Anfang der 1930er Jahre aus Leipzig nach London emigrierte
Familie Michael Margules, mütterlicherseits:
– Großvater: Wilhelm Spinrad, geboren 1893 in Stryi, Galizien (heute Ukraine); Unternehmer und Likörfabrikant, Hauptsitz des mittelständischen Unternehmens: Wien 5., Bacherplatz 17, mit einer Produktionsstätte in Straßhof, Niederösterreich; das Unternehmen wurde von den Nazis arisiert und mein Großvater am 24. Juni 1943 nach Theresienstadt deportiert und 1944 ermordet
– Großmutter: Klara, Mädchennamen Hoffnung, geboren 1897 in Bolochov (heute Ukraine); sie überlebte die Kriegsjahre ab 1942 als so genanntes U-Boot, versteckt bei ehemaligen Angestellten des Unternehmens in Straßhof; sie begann mit Rückstellungsprozessen, die in den späten 1950er Jahren meine Mutter mit Hilfe meines Vaters erfolgreich zu Ende brachte
Kinder:
Mathilde, Tilly, Michaels Mutter, geboren 1924 in Wien; Kindertransport nach England; bis zuletzt hielt sie an ihrem britischen Pass fest; Rückkehr nach Wien im Jahr 1947; nach dem Tod ihrer Mutter Klara begab sie sich zuerst gemeinsam mit Bruder Hans nach Buenos Aires; danach Rückkehr nach Wien, Heirat mit Adolfo Margules im Jahre 1957.
Johann, Hans, geboren 1921 in Wien; Kindertransport nach England; ab 1940 in England als Ingenieur tätig, danach in Buenos Aires und bis zu seinem Tod 2001 in Miami Beach. Das Schicksal unserer Familie konnte er nie ganz akzeptieren