Eine kleine Reise in der Zeit
Von Julya Rabinowich
„Ich will, dass du frei leben kannst“, sagte mein Vater. Ich war sieben Jahre alt und hatte keine Ahnung, was er damit meinte, ich hatte mein gesamtes siebenjähriges Leben mit Slogans von Freiheit und der Freundschaft und der Macht des Proletariats verbracht, ich trug das Oktoberkindsternchen auf meiner Uniform mit einem Babyleningesicht darauf, ganz selbstverständlich, ohne zu ahnen, dass meine schwarzbraune Uniform gewaltige Ähnlichkeiten mit den Kostümen der Gouvernanten meiner Großmutter aufwies, wie sie mir erst Jahre später verraten sollte, eine Tatsache, die sie immer wieder nachhaltig verstört und belustigt hatte. Ich streichelte gedankenverloren den Babylenin und verschmierte ihn mit sowjetischer proletarisch wertvoller Himbeermarmelade. Rot auf rot. Das Brot war längst verschlungen und ich hatte immer noch Hunger. „Klar“, sagte ich. „Kann ich noch was zu essen haben?“
„Brot und Spiele“, fauchte mein Vater. „Immer Brot und Spiele“, und dann stand er auf und lagerte die Versorgung der Bestie an meine Mutter aus, die eigentlich gerade nicht zuständig und an ihrer Staffelei gesessen war. Der Gang in die Gemeinschaftsküche unserer wild zusammengewürfelten WG war eher Frauen vorbehalten, der Kampf um die vier Herde für fast vierzig Personen ebenfalls.
Unsere WG war ein guter Zusammenschnitt der sowjetischen Gesellschaft, wir hatten Intellektuelle, Alkoholiker, Alkoholikerintellektuelle, Fabrikarbeiterinnen, mehrere Veteranen und auch einen pensionierten Spionageoberst mit Antisemitismusproblem, genau genommen hatten das Problem wir und er den Antisemitismus. Diesen teilte er zwar mit vielen Russen und Russinnen, auch mit manchen in unserer WG, er hatte aber mehr Einfluss auf unser Leben als die meisten: Ungeniert saß er vor dem einzigen WG-Telefon, das Notizheft am feisten Schoß, den Kugelschreiber im Anschlag, und stenografierte mit, was ihm berichtenswert schien. So sah es aus mit den Menschen, die wir täglich sahen, sehen mussten, und deren finstere Blicke mir als Kind nur mit dem Gedanken erklärbar waren, dass ich wohl etwas falsch gemacht hatte.
Mein Judentum war mir übrigens gänzlich unbekannt, man hatte es mir aus Schonung verschwiegen, traditionell, denn auch meine Mutter hatte es in meinem Alter nicht gewusst – meine Großmutter pflegte jüdische Freunde und Verwandte als „Zugehörige“ zu bezeichnen und weigerte sich nachhaltig, meiner Mutter die Bedeutung dieses Wortes zu erklären, bis diese eines Tages triumphierend verkündete, sie hätte es auch ganz alleine herausgefunden: Unter Berücksichtigung aller als Zugehörige Bezeichneten war es auch ganz klar – ein Zugehöriger war einfach ein kluger, freundlicher Mensch!
Wochen später saß mein Vater an unserem schönen, marmorgetäfelten Kamin und verbrannte stapelweise Notizen, Briefe und andere Dinge, die nach unserer Ausreise den Zurückbleibenden gefährlich hätten werden können, die zu gefährlich waren, um sie mitzunehmen: an der Grenze wurden die Habseligkeiten penibel kontrolliert. Die Augenringe waren tiefer, der Blick dunkler geworden. Im Unterschied zu mir wusste er zu viel. Wusste, dass er, wenn wir den Eisernen Vorhang querten, seine Mutter nie wiedersehen würde. Seine Freunde. Ich ahnte nichts, man hatte mir weder gesagt, dass wir Juden waren, noch, dass wir Kontingentflüchtlinge werden sollten. Jahre später schmerzte es immer noch, ihm dabei nicht beigestanden zu sein, als er seine Vergangenheit den Flammen übergab, seine Notizen, seine Gedanken, seine Zweifel, seine Sehnsüchte. Ich war doch nur sieben Jahre alt gewesen und knapp vor meinem achtzehnten Geburtstag verstarb er unerwartet, die Begegnung zweier Erwachsener war also nie möglich, nicht in dieser Welt, nicht in dieser Zeitbahn. Wie gerne hätte ich eine Zeitreise angetreten, ihn umarmt und in sein Ohr geflüstert: „Manuskripte brennen nicht“, ein Zitat aus Michail Bulgakows Der Meister und Margarita, eines seiner Lieblingsbücher, das er mir mit neun Jahren das erste Mal zu lesen gab und das mein Lebensbuch wurde. Der Roman war ein Bollwerk wider sowjetische Narrative, eine Herausforderung wider die Unfreiheit der Kunst.
Die täglich auf uns einprasselnde Propaganda hatte auch auf mir Spuren hinterlassen, temporäre Tattoos der Medienunterdrückung, die sich nicht sofort mit westlichem Wasser abwaschen ließen: Noch einige Tage nach unserer Ankunft in Wien stritt ich mich wild mit meinem Vater, weil dieser sagte, dass Lenin ein Arschloch gewesen sei. Ein Arschloch! Er hatte seine verlorene Vergangenheit vor Augen, ich meine täglichen Kindergarten- und Schulriten, unsere Zeitlinien wollten und wollten sich nicht kreuzen. Damals nicht. Später nicht.
Zeitreisen konnte ich also weder damals noch heute. Russland hingegen beschloss, eine ganz andere Zeitreise erfolgreich anzutreten, die viele im Westen für unmöglich gehalten hatten – die warnenden Stimmen drangen nicht zeitgerecht an diverse Ohren. Die Überraschung also war komplett: nicht damals, als Wladimir Putin die Krim klammheimlich annektierte. Sondern erst jetzt, als die Blumen des Bösen nicht mehr über Grosny und Aleppo, sondern über Mariupol im Nachthimmel explodierten. Putin, der schwerkranke Drache am FSB-Hort, erträumte die UdSSR zurück, und mit diesem Traum verfolgte er auch eine Medienkontrolle, die durchaus an jene herankam, die ich als Kind hinter dem Eisernen Vorhang erlebt und verinnerlicht hatte, die mich imprägniert hatte mit der Vorahnung kommender Zensur, die mich bis heute laut schreien lässt, wenn ich erste zarte Triebe dieser Kontrolle entstehen sehe.
Der Ukrainekrieg, als Spezialoperation verharmlost, die man bei Gefängnisstrafe nicht anders nennen darf, brachte das Kartenhaus der angeblichen Demokratie endgültig zum Kippen: Russland ist erneut eine Diktatur. Putin ein Diktator. Die Leichen, die Vergewaltigten, die ausgebrannten Skelette ehemals bewohnter Häuser: Diese Bilder überlappen sich, hallen als Echo der Tschetschenienkriege nach, sind für mich nichts Neues. Leider. Die Flüchtlinge mit ihren Habseligkeiten, die erneut durch Europa ziehen, die Toten, die Trauernden: Alles kommt in einer jähen Wendung vom Alltäglichen ins Krisenhafte zurück, alles ist wieder da, die Risse im zarten Eis der Zivilisation, die Echos vergangener Grausamkeiten.
Jemand wie unsere Familie, die antisemitische Verfolgung, Pogrome und Gewalttaten mütterlicherseits wie väterlicherseits erlebt hatte, ist innerlich schnell bereit, erneut in Fluchtmodus vivendi zu verfallen, zu lange war man über Generationen zu vorsichtig, zu aufmerksam, man hörte lieber das Gras und neue Unterdrückung wachsen, während es für viele erst den Paukenschlag brauchte. Doch unsere Vorsicht bringt nicht viel: nicht einmal der Paukenschlag. Das Rad des Krieges wird sich weiterdrehen, bis es zu einer Lösung kommen wird.
In der Zwischenzeit werden in Russland: die breite Mehrheit schweigen, eine todesverachtende Minderheit ihr Leben und ihre Freiheit bei den Demonstrationen für den Frieden riskieren, Journalisten und Journalistinnen fliehen, so sie es noch können, und einige wenige aus ebenso todesverachtendem Bestemm trotzdem bleiben. Die Propagandaorgel wird über uninformierte Köpfe hinwegfegen, über mit toxischen Verdrehungen gefüllte Hirne. Es marschieren Menschen bei der Siegesparade am 9. Mai auf – auch mit Fahnen der Sowjetunion.
In der Ukraine werden neue Massengräber entdeckt werden und ankommende Fliehende werde ihre entsetzlichen Augenzeugenberichte weitererzählen, so wie es die ersten, die hier ankamen, schon taten. Mit einer Diktatur ist nicht zu scherzen, kaum zu verhandeln, eine Diktatur spielt nach ihren eigenen Regeln und bricht jene der allgemeinen Übereinkünfte. Und ich werde an das Dunkle in den Augen meines Vaters denken und glauben, dass er alles das schon gewusst hat, damals, als er seine Vergangenheit verbrannte, um mir eine andere Vergangenheit als diese seine zu ermöglichen.