Eine Initiative der jüdischen Diaspora in Europa namens JCall fordert ein Umdenken.
Von Herbert Voglmayr
JCall ist eine politische Initiative europäischer Juden, die sich als neue jüdisch-europäische Stimme zu Angelegenheiten des Staates Israel zu Wort melden will. Der Name JCall steht für „Jewish Call for Reason“ (jüdischer Appell an die Vernunft) und meint eine Politik, die auf einer dezidiert prozionistischen Überzeugung gründet, jedoch die israelische Regierungspolitik nicht in jedem Fall bedingungslos unterstützt, wenn sie diese für falsch hält. Erstmals trat JCall Anfang Mai 2010 an die Öffentlichkeit, als sie in Brüssel eine von über 3000 europäischen Juden unterzeichnete Petition an das EU-Parlament vorlegte, welche vor allem den Stopp des Siedlungsbaus im Westjordanland und in Ost-Jerusalem verlangt und die EU auffordert, sich für eine vernünftige und schnelle Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts zu engagieren, gemäß dem Prinzip „zwei Staaten für zwei Völker“. Die Zahl der Unterschriften für die Petition ist auf der Website www.jcall.eu mittlerweile auf über 7000 angewachsen. Die Initiative ging von einer kleinen Gruppe von Juden aus, die Mitglieder verschiedener jüdischer Organisationen in europäischen Ländern sind und zu denen etwa die französischen Philosophen Bernard-Henri Lévy und Alain Finkielkraut zählen sowie mehrere jüdische Mitglieder des Europäischen Parlaments. Ähnlich der amerikanisch-jüdischen Lobbyorganisation „J Street“ vertreten die Leute von JCall die Auffassung, dass eine unkritische Unterstützung der israelischen Regierungspolitik nicht automatisch den echten Interessen des Staates Israel dient. Sie wollen eine europäische Bewegung gründen, deren Ziel die Sicherung Israels als jüdischer und demokratischer Staat ist, was jedoch die Koexistenz mit einem souveränen und lebensfähigen palästinensischen Staat voraussetze. Damit wurde natürlich eine umfangreiche Diskussion ausgelöst, die von heftigen Pros und Kontras geprägt ist. Etablierte jüdische Organisationen wie etwa CRIF (Dachverband jüdischer Organisationen in Frankreich) kritisieren JCall scharf und sagen, ihre Petition sei verantwortungslos, weil sie den Feinden Israels in die Hände spiele und ein belagertes Israel noch mehr unter Druck setze. Manche sprechen in Emails sogar von Verrätern. Dem hält JCall entgegen, dass sie CRIF als offizielle Repräsentanz der französischen Juden selbstverständlich anerkenne, dass aber 70 bis 80 Prozent der französischen Juden weder CRIF noch einer anderen Organisation angehören und sich daher nicht vertreten fühlen. Ein anderer, häufig geäußerter Kritikpunkt ist das Argument, Israel sei kein europäisches Land und daher hätten europäische Juden kein Recht, Israel zu kritisieren. Dem entgegnen Befürworter von JCall, dass sich Israel als jüdischen Staat bezeichne und daher auch Kritik von Diaspora-Juden akzeptieren müsse. Israel könne nicht die Juden in aller Welt auf die Rolle politischer Gefolgschaft und materieller Unterstützung beschränken und in Geiselhaft nehmen für eine nationalistische Politik, die vorwiegend auf militärische Härte setzt. Pro-palästinensische Gruppen kritisieren, dass die Petition sehr zionistisch sei und die Palästinenser nicht direkt einbeziehe, vielmehr die alten zionistischen Ansprüche nur neu verpacke. Dazu sagt JCall, ihre Bewegung sei eine von Juden und Zionisten und nicht von Palästinensern, sie würde aber durchaus ihre Aufmerksamkeit auf die palästinensischen Ansprüche richten und manche Aspekte des Problems neu fokussieren. Neben heftiger Kritik gibt es auch sehr positive Reaktionen, etwa in den USA, wo prominente jüdische Bürger, unter ihnen Rabbis, Richter, Schriftsteller und Intellektuelle, im Gefolge von JCall einen ähnlichen Aufruf namens „for the sake of Zion“ (um Zions Willen) ins Leben gerufen haben. Einige der Initiatoren, die bisher die Formel „Frieden durch Sicherheit“ verteidigten, rücken jetzt davon ab und sagen, Israel müsse auf einen Kurs des Friedens mit den Nachbarn einschwenken, um jene Sicherheit zu gewinnen, die nicht aus militärischer Stärke, sondern aus der Verhinderung weiterer Kriege entstehe. Sonst würde sich – wie auch JCall betont – Israel bald mit zwei katastrophalen Alternativen konfrontiert sehen: Entweder werden die Juden eine Minderheit im eigenen Land sein oder es werde ein Regime entstehen, das eine Schande für Israel wäre und die Gefahr eines Bürgerkriegs heraufbeschwören würde. Die Debatte zeigt, dass sich in den europäischen (und amerikanischen) jüdischen Gemeinden – bei all ihrer Unterschiedlichkeit – die Stimmung langsam ändert. Immer mehr europäische Juden stehen dem israelischen Siedlungsbau kritisch gegenüber und wollen nicht länger zusehen, wie ihre Gemeinden damit identifiziert werden. Dabei sind liberale politische Positionen, wie sie JCall vertritt, in der jüdischen Diaspora nicht neu. Neu ist allerdings, dass sie sich in dieser publizistischen Deutlichkeit formieren und quasi offiziell die Bühne des politischen Diskurses betreten. Bisher waren jüdische Intellektuelle in Europa wegen der schweren historischen Last der Shoah immer zurückhaltend, ihre Bedenken gegen Israels Politik förmlich zu äußern. Jetzt scheint aber eine innerjüdische Diskussion in Gang zu kommen (wie sie übrigens in Israel schon lange und viel offener geführt wird als in Europa), um neue Wege zu einer politischen Lösung des komplexen Nahostkonfliktes zu finden. Möglicherweise wird ein solcher Versuch ja wieder scheitern, aber vielleicht wenigstens besser scheitern als bisher.