Deutschland ein liberaler Rabbiner geworden. Er hilft nun anderen jungen Chassiden diesen Weg zu gehen, und versucht gleichzeitig, chassidische Werte zu vermitteln.
Von Eric Frey
Für Akiva Weingarten sind Chassiden „wie Vögel, die immer im Käfig leben und Fliegen für eine Krankheit halten.“ Sie kennen nichts anderes als ihre ultraorthodoxe Welt mit ihren unzähligen Geboten, Verboten und der ständigen Angst vor den Folgen von Verstößen. Weingarten ist vor neun Jahren ausgeflogen, hat mit knapp 30 seine Familie und seine Satmarer Chassidengemeinde verlassen und ist dabei sicher gelandet. Er hat am Judentum festgehalten, hat in Deutschland Judaistik studiert, und ist heute Rabbiner von zwei liberalen Gemeinden, in Dresden und Basel.
Weingarten hat mehr Glück gehabt als viele andere Ultraorthodoxe, die diesen Weg einschlagen. Sie verlassen ein extrem restriktives, aber klar geregeltes Leben und landen ohne Ausbildung, ohne Kenntnisse der säkularen Welt und meist ohne persönliche Beziehungen in einer Leere, die allzu oft in den Suizid führt. „Es ist wie bei Transgender-Personen“, sagt Weingarten. „Man findet sich in einer Situation, in der man die gesamte Identität verloren hat, alles, was einst Ziel im Leben war, und man muss sich völlig neu definieren. Es ist ein harter, oft komplizierter Weg, der viele Jahre dauert.“
Um diesen Menschen zu helfen, hat Weingarten in Dresden die Besht Yeshiva gegründet, die sich selbst als „erste liberal-chassidische Jeschiwa der Welt“ bezeichnet. Sie hilft jungen Aussteigern aus chassidischen Gemeinden, sich in der deutschen Gesellschaft zu integrieren und mit dem Judentum verbunden zu bleiben. Für zehn Männer und Frauen hat das kleine Zentrum in Dresden derzeit Platz, doch auf der Warteliste stehen 107 Menschen, die meisten von ihnen aus Israel. Er brauche dringend Spenden, um besser helfen zu können, sagt Weingarten. Denn die Zahl der OTD („Off the Derech“ – „vom Weg abgegangen“), wie sich ultra-orthodoxe Aussteiger nennen, hat in den vergangenen Jahren zugenommen.
Zehn bis 15 Prozent jedes israelischen Jeschiwa-Jahrgangs verlassen ihre Gemeinde und entscheiden sich für ein normal orthodoxes oder säkulares Leben. Das ist auch etwas leichter geworden, seit er den Schritt vor zehn Jahren unternommen hat, sagt Weingarten. Dass seine Eltern in New York den Kontakt mit ihm aufrechterhielten und er nach der Scheidung seine drei Kinder in Israel sehen konnte, war damals noch ungewöhnlich. Die meisten OTD wurden von den Rabbinern für tot erklärt.
Offen für Rückkehrer
Heute würden die Gemeinden etwas toleranter damit umgehen, auch um eine Tür für eine Rückkehr offen zu halten, sagt Weingarten. Und das mache es auch leichter, ein neues Leben zu finden, in dem Judentum immer noch eine Rolle spielt. Aber viele, die in ihrer ultraorthodoxen Gemeinde bereits zweifeln oder verzweifeln, schrecken vor diesem Schritt zurück. Oft sind es die Ehe, die bei Chassiden sehr früh eingegangen wird, und die Liebe zu den meist sehr zahlreichen Kindern, die sie davon abhalten.
Bei Weingarten war es eine Mischung aus persönlichen und intellektuellen Motiven, die ihn gehen ließ: eine unglückliche Ehe mit einer Frau, die überhaupt nicht zu ihm passte, Erfahrungen mit Missbrauch, die Beobachtung von Scheinheiligkeit, und ein immer schon etwas rebellischer Geist. Jahrelang führte er ein geistiges Doppelleben zwischen strengen Ritualen und schwindendem Glauben. „Irgendwann brach das Kartenhaus zusammen“, sagt er. „Dann gab es für mich keine Möglichkeit mehr, als zu gehen.“
Geboren und aufgewachsen in einer Satmar-Gemeinde in New York, lebte er damals in Bnei Brak, der von Ultraorthodoxen bewohnten Stadt bei Tel Aviv. Vor seinem Ausbruch lernte er Deutsch, was dank der jiddischen Muttersprache nicht schwer war, ersparte sich von seinen wenig ertragreichen Jobs etwas Geld und flog am 6. September 2014 mit 1000 Dollar in der Tasche nach Berlin. Dort landete er in jener von Verwirrung, Ahnungslosigkeit und fehlender Unterstützung geprägten Leere, die fast alle OTDs erleben. Sein Glück war, dass er eines Tages an einem Bahnhof von einem Mann angesprochen wurde, der ihn in deutsch-christliche Kreise einführte, die sich mit Judentum und Jiddisch beschäftigen – und ihn unter ihre Fittiche nahmen. Denn wer weiß mehr über Bibel, Talmud und jüdische Philosophie als ein Mann, der dies seit Kindheit jeden Tag studiert hat?
Weingarten hat über sein Leben ein wunderbares Buch geschrieben, in dem er mit deutlicher Kritik, aber ohne Hass, sein Leben in der Welt der Satmar-Chassiden beschreibt und seinen dramatischen Weg hinaus. Ultraorthodox: Mein Weg ist im Vorjahr erschienen und hat viel Widerhall in deutschen Medien gefunden, auch weil es die Netflix-Serie Unorthodox über die amerikanische Aussteigerin Deborah Feldman und ihrem gleichnamigen Buch so gut komplementiert.
Was ihn auszeichnet, ist sein Festhalten am Chassidismus – aber nicht dem Chassidismus der heutigen Ultraorthodoxie, sondern den ursprünglichen Lehren dieser Bewegung, die im 18. Jahrhundert vom Baal Schem Tov – kurz Besht genannt und Namensgeber seiner Jeschiwa – gegründet wurde. Er trägt am Schabbat chassidische Kleider wie Schtreimel und Kaftan und verwendet für seine Predigten in den liberalen Gottesdiensten chassidische Geschichten und Auslegungen, die er modern interpretiert.
Judentum selbst entdecken
Der Chassidismus, so Weingarten, sei ursprünglich eine Reaktion auf allzu große Strenggläubigkeit im Judentum gewesen und hätte sich auch in eine liberale Richtung entwickeln können. „Das Ziel des Chassidismus war, die Trennung zwischen den Gelehrten und den einfachen Leuten zu brechen“, sagt er. „Die Kernidee lautet: Sei fröhlich, sei optimistisch, und sei ein guter Mensch.“ Chassidische Weisheiten hätten deshalb auch in der US-Mainstreamkultur bis hin zu Hollywood Fuß gefasst. Erst später, und ganz besonders nach der Schoa, wurde Chassidismus zu dem religiösen Korsett, wie man es heute kennt.
In der Besht Yeshiva können die Ex-Chassiden „ihr Judentum selbst entdecken und definieren“, sagt Weingarten. „Den einen ist koscher wichtig aber der Schabbat nicht, die anderen machen es umgekehrt. Judentum ist so viel mehr als Religion, es ist Herkunft, Kultur, Nation, so viele Komponente, an denen man unabhängig vom Glauben an Gott teilhaben kann.“ Sein Ziel sei es auch, das unglaublich große Wissen der Aussteiger und die besondere Spiritualität der Bewegung für jüdische Gemeinden zu bewahren und nutzen und sie so auch zu bereichern. Wenn Weingarten heute Ultraorthodoxen begegnet, empfindet er „eine Mischung aus Mitleid und Verständnis“. Es sei ihr gutes Recht, diesen Weg zu wählen. „Aber ihr müsst auch bedenken, dass ihr Kinder habt, und die haben das nicht gewählt; das habt ihr für sie getan. Kinder müssen die Freiheit haben, sich selbst zu entscheiden.“ Es ist eine Freiheit, die sich Weingarten und viele andere erst schwer erkämpfen mussten.
Besht Yeshiva Dresden: kontakt@besht.de
beshtdresden.org
Akiva Weingarten
Ultraorthodox: Mein Weg
Gütersloher Verlagshaus
256 S., EUR 20,95,-