Vor einigen Tagen las ich, was der deutsche Außenminister Johann Wadephul bei seinem Besuch in Israel sagte: Deutschland setze weiterhin auf „eine verhandelte Zweistaatenlösung“. Damit stehe die Anerkennung eines palästinensischen Staates „eher am Ende des Prozesses“. Allerdings sagte Wadephul auch: „Aber ein solcher Prozess muss jetzt beginnen.“
von Leon de Winter
Der Prozess einer verhandelten Zweistaatenlösung muss also laut Wadephul erst noch beginnen. Ob er diese Linie in den kommenden Wochen unter dem starken Druck des Koalitionspartners und ähnlich gesinnter Politiker in Paris und London beibehalten kann, gehört zu den größten Prüfungen, denen sich das moderne Deutschland stellen muss. Die Ankündigung westlicher Staaten, einen palästinensischen Staat anzuerkennen, ist kaum mehr als lebensgefährlicher Selbstbetrug.
Dieser Selbstbetrug entsteht, wenn man nicht anerkennt, dass bis zum 6. Oktober 2023 ein vollständig ausgebildeter palästinensischer Staat existierte: Gaza. Dort übte eine Regierung die Staatsgewalt aus, es gab Außengrenzen, ein Militär, eine Bevölkerung, die die Regierung anerkannte, und internationale Beziehungen – hauptsächlich über das UNRWA und NGOs. Am 7. Oktober überfiel Gaza das Nachbarland Israel. Ziel war es, das Territorium Gazas zu erweitern, möglichst viele Juden zu ermorden und so viel Chaos zu stiften, dass Israels Armee nicht in der Lage wäre, Raketenangriffe aus dem Libanon und Iran abzuwehren. Der Angriff sollte den Anfang vom Ende des jüdischen Staates einläuten.
Auch dies wollen Politiker lieber nicht zur Kenntnis nehmen: Die Hamas ist die Armee von Gaza. Es gibt kaum eine Familie ohne Bruder, Neffen oder Onkel in den Reihen der Hamas. Die Hamas lebt vom Atem und Blut des Volkes von Gaza. Die Hamas ist also keine externe extremistische Bewegung am Rand der Gesellschaft, sondern Ausdruck des tiefsten kollektiven Willens eines großen Teils der Bevölkerung: zuerst der Untergang des Samstagsvolkes (der Juden), dann der des Sonntagsvolkes (der Christen). Doch die Hamas ist keine nationalistische Bewegung. Sie ist der einzige erfolgreiche Zweig der Muslimbruderschaft nach dem gescheiterten Machtgriff in Ägypten zur Zeit des sogenannten Arabischen Frühlings – der keine Frühlingszeit, sondern ein Aufstand reaktionärer Muslime war. Die Hamas hat es geschafft, über längere Zeit ein Gebiet zu beherrschen und dort (und darunter) eine Kriegsmaschinerie aufzubauen.
Ein großer Teil der Bevölkerung Gazas muss von diesen unterirdischen Kriegsvorbereitungen gewusst haben – auch das möchten viele Politiker nicht wahrhaben. Das Tunnelsystem war 700 Kilometer lang, 300 Kilometer mehr als die Londoner U-Bahn. Der Aufwand war immens. Zehntausende Männer arbeiteten daran. Riesige Mengen Beton wurden gegossen, Kommunikationsleitungen verlegt, Schlaf- und Essplätze eingerichtet, Energie- und Abwassersysteme integriert.
Wie man es auch dreht – der Bau dieses Netzwerks war eine beeindruckende Leistung. Doch es war auch Ausdruck des teuflischen Hamas-Konzepts: Die unterirdischen Kämpfer sollten durch die oberirdische Bevölkerung geschützt werden – durch ihre eigenen Familien. Mit anderen Worten: Die Hamas verteidigte sich mit den Körpern der Gazaner, die Menschen in Gaza selbst waren die Befestigungen der Hamas. Das Tunnelsystem wurde gezielt dafür gebaut, mit Tausenden Zugängen.
Statt Gaza zu einem „Singapur am Mittelmeer“ zu machen, entschied man sich – nicht alle, aber etwa achtzig Prozent der Bevölkerung – für den ewigen Krieg. Eine zuverlässige palästinensische Meinungsumfrage von vor drei Monaten zeigte, dass 64 Prozent der Bewohner Gazas nicht wollen, dass die Hamas die Waffen im Gegenzug für ein Kriegsende niederlegt. Im Westjordanland ist es noch schlimmer: Dort wünschen sich 85 Prozent der Palästinenser, dass die Hamas bewaffnet bleibt.
Auch dieser Umstand wird in der Debatte über Gaza meist verschwiegen: Der Hamas reicht nicht ein Staat „From the River to the Sea“. Frieden gibt es erst nach dem endgültigen Sieg des Islam weltweit – und in Phasen der Wiederbewaffnung. Die Hamas ist eine revolutionär-religiöse Bewegung, die auch die „aufgeklärten“ arabischen Staaten stürzen will. In der radikal-islamistischen Ideologie der Hamas gelten arabische Familien-Diktaturen als Abtrünnige und Verräter.
Außenminister Wadephul spricht von einer „verhandelten Zweistaatenlösung“. Das ist eine Unmöglichkeit. Für die Hamas besteht die Übergangslösung im Verschwinden des jüdischen Staates, gefolgt vom Untergang der westlichen Zivilisation. Welche Wahl bleibt Israel, wenn verhandelt werden soll: der Strick, die Guillotine oder der Scheiterhaufen?
Im unterirdischen Krieg, den die Hamas vorbereitet hat, spielen zivile Opfer eine Hauptrolle. Je mehr Tote, desto besser – denn westliche Medien folgen begeistert dem teuflischen dschihadistischen Drehbuch. Dies ist kein Film, den Israel „sauber“ beenden kann.
Der amerikanische Kriegsveteran und Experte für Stadtkämpfe, John Spencer, hat betont, dass das Verhältnis von zivilen zu militärischen Toten in Gaza bei 1 zu 1 liegt – während bei anderen Stadtkämpfen normalerweise 9 Zivilisten auf einen getöteten Kämpfer kommen. Doch westliche Politiker und Medien zucken darüber nur die Schultern. Sie klammern sich an die Fiktion, dass Israel Anforderungen erfüllen muss, die in der Geschichte des urbanen Krieges noch nie gestellt wurden: Es dürfen keine Zivilisten sterben. Das kann Israel nicht leisten.
Der jüdische Staat wurde überfallen – nicht von einer weit entfernten Verbrecherbande, sondern von der Bevölkerung Gazas. Das Böse, das die Hamas zeigte, die Verstümmelungen und Vergewaltigungen, entstammen den ältesten Stammeskriegstraditionen des Nahen Ostens; die Hamas hat kein Programm, das ein zivilisierter Mensch wie Johann Wadephul – der ein liebliches Gymnasium namens Meldorfer Gelehrtenschule besucht hat, gegründet 1540, eine Quelle europäischer klassischer Bildung – begreifen könnte, es sei denn, er ist bereit, in die satanische und psychotische Unterwelt des Dschihadismus hinabzusteigen, die ohne spezialisierte Anthropologen und Psychiater nicht zu verstehen ist.
Mit Islamisten und Dschihadisten lässt sich nicht verhandeln, auch dann nicht, wenn sie einen Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte tragen – wie Syriens neuer Führer Ahmed al-Scharaa, der bis vor Kurzem noch Abu Mohammad al-Julani hieß. Er war Mitglied von al-Qaida im Irak, dann Gründer der Al-Nusra-Front, leitete 2012 die Al-Qaida-Abteilung in Syrien, später nannte er seine Terrorgruppe Jabhat Fatah al-Sham, die schließlich in Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) aufging. Bindet er sich die Krawatte selbst?
Alles, was in Gaza schiefläuft, haben sich die Gazaner selbst zuzuschreiben. Es ist unklug, ein mächtiges, hoch entwickeltes Nachbarland anzugreifen und dabei auf bestialische Weise Menschen zu verstümmeln. Gaza jubelte beim Anblick der Bilder, die die Terroristen aufgenommen hatten. Jüdische Gefangene wurden durch die Straßen Gazas geschleift. Auf Straßen und Plätzen wurde vor Freude Süßes verteilt. Am Samstag erklärte der Hamas-Funktionär Ghazi Hamad im Fernsehsender al-Dschasira, die Initiative mehrerer Länder, einen palästinensischen Staat anzuerkennen, sei „eine der Früchte des 7. Oktober“.
Die Hamas könnte den Krieg heute beenden – lasst die Geiseln frei, legt die Waffen nieder – doch die Hamas tut das nicht, weil die Hamas im Westen reife Früchte ernten kann, gezüchtet von nützlichen Idioten, die keinen Tag im „freien Palästina“ überleben würden.
Vielleicht hat Minister Wadephul an der Meldorfer Gelehrtenschule gelernt, Latein zu lesen. Das „Kyrie Eleison“ – der Titel ist griechisch, der Text lateinisch: „Herr, erbarme dich“ – von Johann Sebastian Bach wird niemals im Palästina „vom Fluss bis zum Meer“ oder im zukünftigen europäischen Kalifat von der Wolga bis zur Nordsee erklingen. Ich übertreibe nicht, ich zeichne kein Zerrbild: Die Aufgabe unserer Führung, so scheint mir, ist es, die Meldorfer Gelehrtenschule gegen den grausamen Wahnsinn des Dschihadismus zu verteidigen. Es geht nicht um die Nakba, nicht um Jerusalem, nicht um das Rückkehrrecht. Kyrie Eleison – darum geht es im Krieg um Gaza.
Wir danken der Welt und Leon de Winter herzlich für die Möglichkeit des Nachdrucks.