Siebenundsiebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs gibt es in den drei baltischen Staaten wieder eine merkbare Renaissance jüdischen Lebens.
Von Otmar Lahodynsky
In Vilnius wird demnächst ein neues Museum eröffnet, das der Geschichte der litauischen Jüdinnen und Juden (Litwaks genannt) gewidmet ist. In Lettland hat das Parlament in Riga ein Gesetz über Entschädigungszahlungen an Jüdinnen und Juden verabschiedet. Überlebende der Nazi-Gräuel sollen unterstützt und die jüdische Gemeinde gestärkt werden. Und auch in Estland gibt es wieder jüdisches Leben, seit 2007 auch eine neu errichtete Synagoge in der Hauptstadt Tallinn. Ein Überblick über die drei baltischen Staaten.
Lettland
Im Vorjahr fand eine Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Massenmords an Jüdinnen und Juden im Wald von Rumbula bei Riga statt. Unter der NS-Besatzung Lettlands mussten 1941 alle Juden in Riga – bis zu 30.000 Menschen – in ein Ghetto am Stadtrand, genannt „Moskauer Vorstadt“, umziehen. Im Winter 1941 ermordeten SS-Angehörige mit Hilfe lettischer Kollaborateure im Wald von Rumbula die meisten Jüdinnen und Juden des Ghettos sowie rund tausend Juden aus Deutschland. Die vorhandenen Opferzahlen schwanken zwischen 25.000 und 27.500.
Mit dem im Vorjahr vom Parlament Lettlands verabschiedeten Gesetz, das Entschädigungszahlungen in Höhe von 40 Millionen Euro vorsieht, sollen nun „die historischen ungerechten Folgen“ beseitigt werden, die sich aus „dem Holocaust und den Aktivitäten unter sowjetischer Herrschaft“ ergeben haben, wie es in einer Mitteilung heißt. Das Geld soll ab 2023 über einen Zeitraum von zehn Jahren in jährlichen Raten von vier Millionen Euro an einen Restitutionsfonds der jüdischen Gemeinde Lettlands fließen. Ein Teil des Geldes soll an überlebende Shoah-Opfer ausgezahlt werden. Zudem sollen jüdische Schulen, Gebäude und kulturelle Projekte unterstützt werden, um die rund 9500 Mitglieder zählende jüdische Gemeinde Lettlands zu stärken. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten etwa 95.000 Jüdinnen und Juden in Lettland.
In den Anmerkungen zu dem – gegen Vorbehalte der nationalkonservativen Regierungspartei Nationale Allianz – verabschiedeten Gesetz wird betont, dass der lettische Staat nicht für den Diebstahl jüdischen Eigentums und die Ermordung der Jüdinnen und Juden im Land durch die deutschen Nationalsozialisten verantwortlich sei. Doch sei es „ethisch und fair“, wenn der wiederhergestellte Staat Lettland seine jüdische Gemeinde für die erlittenen Immobilienverluste entschädige.
Die jüdische Gemeinde Lettlands, die World Jewish Restitution Organization (WJRO) und auch US-Außenminister Antony Blinken begrüßten das neue Gesetz. In Lettland blieb die Entschädigung jüdischer Eigentümer lange ungeklärt – wiederholt scheiterten Wiedergutmachungsgesetze.
Lettland war im Zweiten Weltkrieg abwechselnd von der Sowjetunion und Nazi-Deutschland besetzt. Während der deutschen Besatzung zwischen 1941 und 1944 wurden mehr als 70.000 Jüdinnen und Juden in dem Baltenstaat getötet. Nach Kriegsende machte die Sowjetunion Lettland, wie auch die beiden anderen baltischen Länder Litauen und Estland, zum Teil des Staatsgebiets. Erst 1991 erlangten die drei Staaten des Baltikums ihre Unabhängigkeit zurück und wurden in der Folge Mitglieder der NATO und EU.
Estland
Nicht einmal ein Dutzend estnische Juden überlebte den Holocaust in ihrer Heimat. Zwischen 1944 und 1950 kehrten zirka 1500 estnische Jüdinnen und Juden, die vor den deutschen Truppen in die UdSSR hatten fliehen können, nach Estland zurück. Unter sowjetischer Herrschaft zogen auch russische Jüdinnen und Juden nach Estland. Vom Ende des Krieges bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion spielte sich aber das jüdische Leben in der Sozialistischen Sowjetrepublik Estland weitgehend im Verborgenen ab. Um 1960 lebten in Tallinn etwa 3700 Jüdinnen und Juden.
Es dauerte lange, bis die jüdische Gemeinde in Estland wieder organisiert lebte und jüdische Einrichtungen gegründet wurden: Ende der 1980er Jahre wurde in Tallinn die Jüdische Kulturgesellschaft ins Leben gerufen, und in den folgenden Jahren entstanden wieder jüdische Schulen und jüdische Sport- und Kulturvereine. Kurz vor Wiedererlangung der estnischen Selbstständigkeit wurde 1990 in Tallinn die „Jüdische Schule“ („Tallinna Juudi Kool“) eröffnet – wie ihre Vorgängerin in der Karu-Straße. Heute besuchen etwa 200 Schüler und Schülerinnen die angesehene Schule, wo der Unterricht nach dem nationalen estnischen Lehrplan stattfindet. In Abstimmung mit der israelischen Regierung wurde dieser um besondere Fächer erweitert: Eine aus Israel entsandte Lehrkraft unterrichtet Hebräisch, auf dem Lehrplan stehen auch jüdische Geschichte sowie jüdische Literatur. Das Gymnasium ist die einzige höhere jüdische Bildungseinrichtung in Estland; daneben existieren jüdische Sonntagsschulen in den Städten Tartu, Narva und Kohtla-Järve.
Die Wiedererlangung der estnischen Unabhängigkeit im August 1991 hat auch das jüdische Leben im Land beflügelt. 1992 wurde die Jüdische Gemeinde Estlands („Eesti Juudi Kogukond“) gegründet, ein neues Minderheitengesetz garantiert den Schutz der jüdischen Identität.
Die wenigen Jüdinnen und Juden, die den Holocaust überlebt hatten, mussten sich nach 1945 über Jahrzehnte hinweg in einem kleinen Haus in Tallinn versammeln, das ihnen eine christliche Kirchengemeinde zur Verfügung gestellt hatte. Einen Rabbiner gab es damals nicht. Zu den Einrichtungen der Gemeinschaft zählten eine jüdische Schule und ein jüdischer Friedhof.
Erst seit 2000 besitzt Estland wieder einen (chassidischen) Rabbiner aus Israel. Die Abwanderung jüdischer Familien – vor allen nach Deutschland, Israel und die USA – konnte seither gestoppt werden, sodass sich jüdisches Leben von neuem entfaltete. Heute leben noch etwa 1500 Jüdinnen und Juden in Estland, davon allein tausend in der Hauptstadt.
Die neue Synagoge in der Karu-Straße im Zentrum Tallinns wurde 2007 eingeweiht und ist damit der erste Synagogenneubau im Baltikum nach 1945. Der modern anmutende Bau – ein Werk der Architekten Lembit-Kaur Stöör und Tõnis Kimmel – wurde vor allem durch Großspenden finanziert. Neben der eigentlichen Synagoge, die etwa 180 Sitzplätze umfasst, beherbergt der Komplex eine Mikwe (Ritualbad) und ein koscheres Restaurant.
Die jüdische Gemeinde in Estland hat derzeit etwa 1000 Angehörige, zumeist ältere Personen. Größte Gemeinde ist mit Abstand Tallinn, daneben gibt es kleinere jüdische Gemeinden in Tartu, Narva, Kohtla-Järve und Pärnu.
Litauen
In Litauen lebten bis zum Zweiten Weltkrieg die meisten Jüdinnen und Juden der drei baltischen Staaten, in Vilnius stellten sie sogar 40 Prozent der Bevölkerung. Es gab eine Vielzahl von Synagogen, jüdischen Kultureinrichtungen und Tageszeitungen. Doch zwischen 1941 und 1945 wurden die meisten Juden und Jüdinnen ermordet. Mit dem Vorrücken der Roten Armee im Sommer 1944 versuchten die deutschen Besatzer, Spuren der ab 1941 erfolgten Massenerschießungen im Wald von Ponary (litauisch: Paneriai) zu beseitigen. Jüdische Gefangene wurden gezwungen, die Massengräber zu öffnen, etwa 80.000 Leichen wurden exhumiert und anschließend verbrannt. Am 13. Juli 1944 erreichten schließlich sowjetische Truppen die Stadt. Noch zehn Tage vor der Befreiung von Vilnius wurden Jüdinnen und Juden aus den Arbeitslagern der Umgebung im Wald von Ponary umgebracht.
Von den ehemals mehr als 200.000 Jüdinnen und Juden leben heute in Litauen nur noch knapp 4000 (Stand 2021). Von den mehr als 100 Synagogen der Stadt ist nur eine einzige erhalten geblieben: Die 1903 eingeweihte Choral-Synagoge, ein mit maurischen Elementen versehenes Gebäude nach den Entwürfen des Architekten Dawid Rosenhaus.
2019 wurde diese Synagoge – sie war bislang die einzig noch genutzte des Landes – geschlossen.
Von den drei jüdischen Friedhöfen ist nur mehr einer erhalten, auf dem sich mehr als 6500 Gräbern befinden; die beiden anderen wurden in der Nachkriegszeit von den Sowjets zerstört. Den Standort des Alten Jüdischen Friedhofs markiert ein aus zahlreichen steinernen Stelen bestehendes Mahnmal.
Das jüdische Museum in Vilnius (eröffnet und eingerichtet noch in der sowjetischen Zeit 1989) wird von der litauischen Regierung unterstützt. Es beherbergt eine ständige Sammlung mit Erinnerungsstücken der ehemaligen Großen Synagoge. Unter den „Litwaks“, wie die litauischen Juden genannt werden, gibt es viele Künstler und Schriftsteller. Der kanadische Barde Leonhard Cohen hat ebenfalls litauische Wurzeln, wie Anfang Mai eine Ö1-Dokumentation der Publizistin Brigitte Voykowitsch über das Judentum in Litauen berichtete.
In dem Museumsgebäude, das bald durch einen Neubau ersetzt werden soll, gibt es auch die Dauerausstellung des litauischen Malers Samuel Bak, der als Kind aus dem Ghetto flüchten konnte und die NS-Zeit überlebte. Bak emigrierte in die USA.