Leo Schidrowitz verfasste Bücher und Essays kultur- und kunstkritischen Inhalts und etablierte sich als einer der engagiertesten Verleger der ersten österreichischen Republik.
VON AGNES MEISINGER
Mit dem Slogan „Große Geschichte(n) im kleinen Format“ bewirbt der auf jüdische Kultur und Zeitgeschichte spezialisierte Berliner Verlag Hentrich& Hentrich seine außergewöhnliche Reihe „Jüdische Miniaturen“. Die Bücher widmen sich vornehmlich Biografien bedeutender jüdischer Persönlichkeiten des deutschen öffentlichen Lebens, aber auch anderen interessanten populären und kulturellen Themen, wie etwa der jüdischen Küche (Bd. 70) oder der Geschichte des Wiener Stadttempels von Evelyn Adunka (Bd. 62). Die Reihe umfasst bereits über 180 Bände, jährlich erscheinen etwa zehn Miniaturen. Die hier vorgestellte Neuerscheinung widmet sich der Lebensgeschichte von Leo Schidrowitz, einem Wiener Autor, Verleger, Sexualforscher und Sportfunktionär.
Schidrowitz, der 1894 in Wien geboren wurde, war bereits in jungen Jahren schriftstellerisch und verlegerisch tätig. Als Journalist und Kritiker anfänglich auf den Kulturbereich spezialisiert, wandte er sich ab den frühen 1920er-Jahren der erotischen und sexualwissenschaftlichen Literatur zu. Unter anderem gab er zwei Bände der Reihe „Sittengeschichte der Kulturwelt und ihrer Entwicklung in Einzeldarstellungen“ (Verlag für Kulturforschung) heraus und stellte ein vierbändiges Bilderlexikon der Erotik zusammen. Als Direktor des vermutlich 1928 gegründeten „Wiener Instituts für Sexualforschung“ versuchte er, sich auch im Bereich der Wissenschaft zu etablieren, wobei sein Aufgabenbereich mehr das Sammeln und Publizieren sexualwissenschaftlicher Literatur umfasste. In den Räumlichkeiten des Instituts am Kohlmarkt 7 befanden sich unter anderem eine Bibliothek, ein Museum und eine Beratungsstelle für Sexualpathologie. Zeitgleich dazu machte sich Schidrowitz als Funktionär und Publizist um den Wiener (Sportklub Rapid) und österreichischen Fußball verdient.
Der Propagandareferent
Die Autoren der Kurzbiografie, der Kulturwissenschaftler Matthias Marschik und der Politologe Georg Spitaler, haben im Rahmen ihrer langjährigen Forschungen zur Wiener Fußballgeschichte viele Informationen über diese verschüttete, facettenreiche Lebensgeschichte zusammengetragen. Im vorliegenden Band werden die biografischen Erkenntnisse erstmals ausführlicher im vorherrschenden gesellschafspolitischen Kontext dargelegt und füllen somit Leerstellen, die bekannte Lexikoneinträge und Kurzbeiträge bisher offenließen.
Marschik und Spitaler weisen nach, dass Schidrowitz in keiner seiner zahlreichen Publikationen auf seine jüdische Herkunft hinwies. Immer wieder kommen in der Vita auch antijüdische Dispositionen zum Vorschein, wie etwa in einer von Schidrowitz verfassten Flugschrift, in dem er „antisemitisch gefärbte Polemik“ gegen die „assimilierte jüdische Bourgeoisie“ des Amateur-Sportvereins verbreitete. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten gelangten zahlreiche seiner erotischen und sexualwissenschaftlichen Publikationen auf die „Liste des schändlichen und unerwünschten Schrifttums“. Er flüchtete nach dem „Anschluss“ mit seiner Frau und Tochter über Paris nach Brasilien. 1949 kehrte er nach Wien zurück, wurde wieder für Rapid Wien im Vorstand tätig und war bis zu seinem Tod 1956 als „Propagandareferent“ für die Öffentlichkeitsarbeit des Österreichischen Fußballbundes zuständig.
Trotz der dürftigen Quellenlagen gelingt es den Autoren, ein wechselvolles Porträt eines „stadtbekannten, umtriebigen“ Geschäftsmannes zu zeichnen, der stets differierenden Fremdzuschreibungen ausgesetzt war und seinerseits Identifikationen mit dem Judentum vermied.
Leo Schidrowitz: Autor und Verleger, Sexualforscher und Sportfunktionär
Hentrich & Hentrich, Berlin 2015 (Jüdische Miniaturen, Band 167)
84 Seiten, 8,90