Als eine der schillerndsten Persönlichkeiten der lateinamerikanischen Kunstszene mit ihren monumentalen Installationen, partizipativen Happenings und farbenprächtigen Skulpturen hat Marta Minujín die Grenzen der Kunst immer wieder aufs Neue ausgelotet. Ihre Werke oszillieren zwischen Pop-Art, Konzeptkunst und sozial engagierter Kunstpraxis.
Von Mark Napadenski
In ihrer Heimat Argentinien ist sie längst eine Legende – in der internationalen Kunstszene wird sie zunehmend als eine der innovativsten Stimmen der Nachkriegsmoderne anerkannt. Geboren 1943 in Buenos Aires, wuchs Minujín in einer jüdischen Familie mit russischen Wurzeln auf. Sie erhielt zwar keine religiöse Erziehung, beschreibt ihre kulturelle Herkunft aber dennoch als entscheidenden Einflussfaktor auf ihre künstlerische Sensibilität. Schon früh zeigte sich ihr kreatives Talent. Sie studierte an der Escuela de Bellas Artes in Buenos Aires, empfand die dort herrschende akademische Strenge jedoch als beengend. Stattdessen interessierte sie sich für die neuesten Strömungen der internationalen Avantgarde. 1961 erhielt sie ein Stipendium für Paris – eine Erfahrung, die ihr künstlerisches Denken radikal veränderte. Dort begegnete sie den Nouveaux Réalistes um Yves Klein und Arman, die sich mit dem Materialismus der Nachkriegsgesellschaft auseinandersetzten. Besonders beeindruckt war sie von den Déstructions – Kunstwerken, die zerstört oder aufgelöst wurden, um das Ephemere als zentrales Prinzip der Kunst zu betonen. In dieser Phase entstand 1963 ihr erstes großes Happening La Destrucción. Minujín lud Künstlerfreunde dazu ein, ihre eigenen Skulpturen öffentlich zu verbrennen. Es war eine Geste gegen den traditionellen Kunstmarkt und für die Vergänglichkeit der Kunst – eine Idee, die sie zeitlebens begleiten sollte.
Partizipation und Spektakel – Kunst für alle?!
Zurück in Buenos Aires begann Minujín, ihre Happenings in größerem Maßstab zu realisieren. Ihr berühmtestes Frühwerk, La Menesunda von 1965, war eine spektakuläre, labyrinthartige Installation, die Besucher durch eine Reihe von absurden und intensiven Sinneserfahrungen führte. Von einem Raum mit blinkenden Neonlichtern über eine begehbare Matratzenlandschaft bis hin zu einer Kabine, in der sich Paare küssen mussten – die Arbeit war sowohl ein sinnliches, immersives Erlebnis als auch eine Provokation gegenüber der bourgeoisen Kunstwelt. Das machte Minujín international bekannt. Daraufhin wurde sie Teil der experimentellen Kunstszene Lateinamerikas, die – inspiriert von Fluxus und der Pop-Art – Kunst als interaktiven Prozess verstand. Anders als ihre US-amerikanischen Kollegen legte Minujín jedoch besonderen Wert darauf, ihre Werke politisch und sozial zu verankern. Sie wollte keine Kunst lediglich für Galerien schaffen, sondern für die Straße, für die Menschen.
Eines ihrer ikonischsten Werke ist El Partenón de libros von 1983, eine riesige Nachbildung des Parthenons aus Metallgerüsten und Tausenden von Büchern, die während der argentinischen Militärdiktatur verboten waren. Diese temporäre Installation wurde auf der Avenida 9 de Julio in Buenos Aires errichtet – als Monument für die Meinungsfreiheit. Nach Ende der Ausstellung wurden die Bücher dann an die Besucher verschenkt.
Ein wiederkehrendes Motiv in Minujíns Oeuvre ist die Matratze. Bereits in den 1960er Jahren begann sie, Matratzen als skulpturales Material zu verwenden, oft bemalt in knalligen Farben und mit psychedelischen Mustern. Für sie symbolisieren Matratzen den menschlichen Körper, die Intimität, aber auch den öffentlichen Raum. Sie sind Orte des Schlafens, der Geburt, der Liebe und des Todes – ein universales Objekt, das in ihren Händen zur Metapher für die Verbindung zwischen Individuum und Gesellschaft wird.
Ein Leben für die Kunst
Während Minujín in Lateinamerika seit Jahrzehnten als eine der wichtigsten Künstlerinnen gilt, hat es lange gedauert, bis sie in Europa und den USA die ihr gebührende Anerkennung erhielt. Museen wie die Tate Modern in London und das Centre Pompidou in Paris haben begonnen, ihre Werke in den kunsthistorischen Kanon der westlichen Avantgarde einzugliedern. Ein wichtiger Meilenstein war letztlich ihre Ausstellung Arte! Arte! Arte! im Jüdischen Museum in New York (2023/24). Die Retrospektive zeigte über 100 Werke aus sechs Jahrzehnten und unterstrich Minujíns einzigartige Position zwischen Konzeptkunst, Pop-Art und Performance. Mit ihren 83 Jahren ist sie nach wie vor eine unermüdliche Gestalterin. Ihre jüngsten Werke, wie die monumentale Skulptur Sculpture of Dreams von 2023 auf dem Times Square, zeigen, dass sie sich treu geblieben ist: Kunst bleibt für sie ein öffentlicher Akt, ein Ereignis, das Menschen verbindet. Sie glaubt an Kunst als Spektakel, als Spiel, und vor allem als kollektive Erfahrung.