Königin im eigenen Heim

Zwei jüdische Frauen, die ihre Liebe zueinander innerhalb der Gemeinde nicht leben können: Rachel McAdams und Rachel Weisz im Filmdrama „Disobedience“. Foto: Pathé Films

Wodurch sich Orthodoxie und Reformjudentum in Bezug auf Gleichberechtigung, Empfängnisverhütung und Abtreibung unterscheiden. Über Sexualität und Status der Frau im Judentum.

Rabbi Elasar sagte: „Jeder Mensch, der keine Frau hat, ist eigentlich kein Mensch, denn es heißt: Männlich und weiblich schuf er sie … und rief ihren Namen: Mensch.“ (Talmud, Jevamoth 63a).

Die Grundlagen der traditionellen jüdischen Sicht zur Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft entspringen einer patriarchalischen Kultur biblischer und talmudischer Zeiten. Damals wurde die Frau – wie u. a. aus dem Mischna-Traktat Kidduschin 1.1 hervorgeht („die Frau wird erworben …“) – als Eigentum ihres Ehemannes gesehen. Ihre vornehmste Pflicht war es, Kinder zu gebären, sie zu erziehen, ihrem Mann beizustehen und ihn zu ergänzen. Dass die Halacha (also das gesamte gesetzliche System des Judentums) Männer und Frauen verschieden einstuft und auch behandelt, wird von niemandem bestritten. Inwieweit dieses Messen mit zweierlei Maß in der religiösen Gesetzgebung und Praxis noch zeitgemäß ist, darüber gehen allerdings die Meinungen in der jüdischen Welt stark auseinander.

Rechte und Pflichten

Befürworter der traditionellen Praxis weisen bei Diskussionen darauf hin, dass der „Respekt“ vor Frauen im Judentum immer sehr ausgeprägt war und immer noch ist. Sie argumentieren, dass Frauen und Männer vor Gott zwar gleichwertig seien, Frauen sich aber dennoch – gottgegeben – mental und physisch stark von Männern unterscheiden. Sie müssten in der Gesellschaft andere Aufgaben als Männer erfüllen und daher wären Gesetze notwendig geworden, die dem Schutz der Frau und ihrer Lebensqualität dienten. Es handle sich, so die Traditionalisten, nur um eine scheinbare Benachteiligung. Denn im eigenen Heim sei die Frau die Königin, vom Gatten geachtet, umsorgt, sogar sexuell verwöhnt und mit vielen Privilegien ausgestattet, wie etwa dem Recht (der Pflicht), die Schabbatkerzen zu entzünden.

Gleichzeitig sei sie von bestimmten, schwer einzuhaltenden, weil zeitgebundenen religiösen Mizwot (Pflichten), wie etwa dem Beten zu vorgeschriebenen Zeiten, dem Anlegen von Gebetsriemen, dem täglichen Besuch der Synagoge und dem Talmud-Tora-Studium, befreit. Traditionalisten weisen auch auf die Tatsache hin, dass der jüdische Status eines Kindes allein von der Mutter abhängt, womit – angeblich – bewiesen sei, dass Frauen im Judentum nicht benachteiligt, sondern sogar bevorzugt würden.

Historische Bedeutung

Das Judentum war und ist, im Gegensatz zu manch anderen Religionen, absolut nicht sexualfeindlich. Als klar definierte Pflichten des Mannes, der sich eine Frau nimmt, galten und gelten im traditionellen Judentum: die Sorgepflicht für Frau und Kinder; die Ehefrau zu ehren, sie nie zu kränken oder zu schlagen; ihr treu zu bleiben und ihr Recht auf sexuelle Erfüllung zu gewährleisten. Ein Ehevertrag (Ketuba) garantiert der Frau – die aber den Ehevertrag nicht unterschreiben darf – ihre finanzielle Sicherheit nach dem Tod des Ehemanns oder bei einer Scheidung. Trägt allerdings die Frau die Schuld an der Scheidung, dann könnte sie die im Vertrag festgelegten finanziellen Rechte verlieren. Doch in der Tat war in biblischen und talmudischen Zeiten der Status der jüdischen Frau sehr viel besser als die Stellung ihrer nichtjüdischen Nachbarin.

Dass Frauen bis zum 12. Jahrhundert im Judentum eine wichtige Rolle spielten, ist unbestritten. Namen wie etwa Sara, Rebekka, Rachel, Lea, Miriam, Richterin Deborah, die Prophetin Hulda und die Moabiterin Rut (Urgroßmutter von König David), die gelehrten Frauen Brurija und Jalta (Babylon, 3. Jahrhundert) zeigen die ehemals große historische Bedeutung von Frauen für das Judentum. Während sich aber das einst so vorbildliche jüdische Gesetz zum Schutz der Frau seit dem 12. Jahrhundert wenig weiterentwickelte, sich teilweise sogar verhärtete – indem „Befreiungen“ zu Verboten wurden –, änderte sich nach und nach die gesellschaftliche und rechtliche Stellung der Frau in der nichtjüdischen (westlichen) Welt ganz wesentlich. Das führte dazu, dass heute die Diskriminierung von Frauen, zumindest in manchen Bereichen des traditionellen Judentums, stärker ist als in einigen anderen Religionen.

Symbol für die schwache jüdische Frau im Christentum: Die Synagoga mit verbundenen Augen, zerbrochener Fahne und Gebotstafeln in Straßburg, Cathédrale Notre-Dame. Foto: Creative Commons

Traditionell unzeitgemäß

Wo liegen nach Ansicht der Kritiker nun die deutlichsten Benachteiligungen der Frau im (ultra-)orthodoxen Judentum? Es sind dies in erster Linie Fragen des religiösen und sozialen Status und des halachischen Ehe- und Scheidungsrechtes, welche nach Meinung vieler Juden mit den Menschenrechten bzw. der Würde der Frau nicht mehr in Einklang zu bringen sind. Dazu zählen u. a. Diskriminierungen im Erbrecht oder im Ehe- und Scheidungsrecht (Mamzerut-Gesetze); Benachteiligung von Frauen vor orthodoxen Rabbinatsgerichten; die Nichtzählung von Frauen zum Minjan (das Zehnerquorum bei öffentlichen Gottesdiensten); die meist unfreiwillige passive Rolle von Frauen in der Synagoge; das Verbot für Frauen, als Rabbinerin zu fungieren; dass Frauen nicht zur Thoralesung aufgerufen werden; unzeitgemäße Unreinheitsvorstellungen oder auch das Verbot für bestimmte Frauen (Geschiedene, Konvertitinnen, Prostituierte), einen Cohen zu heiraten.

Seit dem Mittelalter wurde aber im Judentum grundsätzlich das bürgerliche über das rabbinische Recht gestellt. Durch diese rabbinische Entscheidung, dass dem Gesetz des Landes stets zu gehorchen sei („dina demalchuta dina“), fällt die religionsgesetzlich festgelegte Benachteiligung der Frau im Erbrecht in der Diaspora nicht mehr ins Gewicht. In Israel hingegen entstehen, wegen der Widersprüchlichkeit von staatlichen Gesetzen und vom Rabbinat erlassenen Entscheidungen, für viele Frauen immer wieder gravierende Probleme. Es blieb und bleibt daher dem nichtorthodox-religiösen Judentum überlassen, unzeitgemäße, überholte – und sogar ihre Kinder diskriminierende – Gesetze für Frauen zu ändern oder ganz außer Kraft zu setzen.

Methodische Verhütung

Die biblisch verankerten Gebote „fruchtbar zu sein und sich zu vermehren“ (Gen 1,28), den Samen nicht unnütz zu vergeuden (Gen 38,9-10) und die talmudische Forderung, „Kinder zu zeugen, mindestens einen Sohn und eine Tochter“ (Tal Jevamoth 6,6) sind die theologischen Grundlagen der traditionellen rabbinischen Entscheidungen in Bezug auf Fragen der Familienplanung. Die Antwort orthodoxer Rabbiner zur Frage, ob eine Familienplanung zulässig sei, lautet daher stets: im Prinzip ja, allerdings dürfen nur Methoden angewendet werden, bei denen der Samenfluss in den Leib der Frau nicht verhindert wird. Der Gebrauch von Kondomen wird daher von manchen ultraorthodoxen Rabbinern verboten. Eine Empfängnisverhütung ist allerdings immer dann gestattet, wenn eine Schwangerschaft die geistige oder körperliche Gesundheit der Frau gefährdet.

Hier kommt das Prinzip zum Tragen, dass die Gesundheit eines Menschen wichtiger ist als das ungeborene Leben (lt. klassischer rabbinischer Definition beginnt das Leben erst mit der Geburt). Als erlaubte Verhütungsmittel in solchen Fällen gelten: Pille, Diaphragma, Spirale, Spermien abtötende Chemikalien und auch die Sterilisation der Frau. Kondome und die Resektion des Samenleiters sind hingegen verboten. Die Durchführung einer Abtreibung nach drei Monaten der Schwangerschaft wird, außer bei Lebensgefahr für die Frau, von den meisten orthodoxen Rabbinern abgelehnt. Manche rabbinischen Autoritäten (z. B. Jakob Emden im 18. Jahrhundert, Ben Zion-Uziel und Eliezer Waldenberg im 20. Jahrhundert) gestatten hingegen diesen Eingriff, auch bei Gefahr für die geistige Gesundheit der Schwangeren, wenn eine kindliche Missbildung zu erwarten ist, oder nach einer Vergewaltigung.

Liberale und konservative Rabbiner akzeptieren hingegen die Notwendigkeit einer wirkungsvollen Geburtenregelung, die Priorität der Gesundheit von Menschen. Sie anerkennen die Eigenverantwortung von Mann und Frau in Bezug auf all diese Fragen. Mit den modernen medizinischen Methoden der künstlichen Befruchtung gelingt es heute, mit dem Einverständnis der meisten Rabbiner, Ehepaaren, die kein Kind zeugen können, zur Elternschaft zu verhelfen. Bei Zeugungsunfähigkeit entschließen sich manche Ehepartner, auch den Samen eines unbekannten Spenders oder das Ovum einer unbekannten Spenderin zu verwenden. Mit dieser Vorgehensweise sind nicht alle orthodoxen Rabbiner einverstanden: Sie befürworten die Adoption eines Kindes anstelle der künstlichen Befruchtung.

Homosexualität

Während im traditionellen Judentum die männliche Homosexualität in Anlehnung an biblische Gebote (Lev 18,22 und 20,13) immer noch als schwere Sünde – wenn auch nicht mehr als abscheuliches, todeswürdiges Verbrechen – angesehen wird, erkennt das progressive Judentum die wissenschaftlich fundierten Erkenntnisse an, dass es sich bei der männlichen und weiblichen Homosexualität um eine angeborene Veranlagung handelt, weder um eine „Krankheit“ noch um ein „Verbrechen“. In progressiven Gemeinden werden daher Anstrengungen unternommen, Vorurteile abzubauen und gleichzeitig homosexuelle Menschen in jüdischen Gemeinden voll zu integrieren. Heute nehmen progressive Rabbinerseminare auch homosexuelle Studenten und Studentinnen auf; viele progressive Gemeinden feiern einmal im Jahr einen Pride Schabbat, der auf die Verfolgung und Diskriminierung von homosexuellen Menschen in aller Welt Bezug nimmt. Die Frage, ob und wie Lebenspartnerschaften zwischen homosexuellen Menschen religiös vollzogen werden können, wird – ähnlich wie im Christentum – heutzutage noch heftig diskutiert.

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