Die unaufhaltsame Globalisierung hat nicht nur die Welt zusammenrücken lassen, sondern auch den Austausch von Kochtraditionen in einem noch nie dagewesenen Maß beschleunigt. Davon ist auch die historisch-jüdische bzw. koschere Küche betroffen.
„Die Tante Jolesch hat das alles nicht mehr erlebt.“ Nicht mehr die ideologische Verfolgung und die Ermordung von mehr als sechs Millionen Juden. Und sie erlebte auch nicht mehr das drohende Aussterben jahrhundertealter Traditionen, innerhalb derer die jüdische Küche einen großen Anteil als Ausdrucksform jüdischer Identität einnimmt. Friedrich Torbergs Geschichten aus dem jüdischen Leben in Wien und Prag erschienen unter dem Titel Die Tante Jolesch oder Der Untergang des Abendlandes in Anekdoten. Dieses Porträt der mit der Donaumonarchie verschmolzenen jüdischen Kultur gewährt Einblicke in großbürgerliche jüdische Haushalte, traditionsreiche Kaffee- und Gasthäuser sowie mondäne Restaurants. Aber war das, was uns Torberg als authentischer Zeuge der Welt von gestern schildert, noch die jüdische Küche, zumal sich die Assimilation auch längst in die Essgewohnheiten eingeschlichen hatte? Ist jüdische Küche das, was Juden essen? Oder das, was die Kaschrut vorsehen?
Austausch von Kochtraditionen
Die unaufhaltsame Globalisierung hat nicht nur die Welt zusammenrücken lassen, sondern auch den Austausch von Kochtraditionen in einem noch nie dagewesenen Maß beschleunigt. Davon ist auch die jüdische bzw. koschere Küche in der Außenwahrnehmung betroffen. Bei aller Vielfalt bildeten sich entsprechend der beiden jüdischen Hauptgruppierungen auch zwei „kulinarische Hemisphären“ der jüdischen Küche: So unterscheidet man grundsätzlich zwischen aschkenasischer und sephardischer Küchentradition. Die Aschkenasim verstehen sich als Nachfahren jener Juden, die vom Rheinland über den Norden Frankreichs und Italien, über England und Mitteleuropa bis nach Osteuropa lebten. Der „gefilte Fisch“ etwa ist nur aus der osteuropäisch-jüdischen Küche bekannt.
Vielleicht liegt auch darin ein Grund, warum in Österreich mit seinen traditionellen und historisch-politisch bedingten Verbindungen zum osteuropäischen Raum gerade der Karpfen der dezidiert jüdischen Kochtradition zugerechnet wurde und daher Rezepte für Karpfen auf jüdische Art bereits in den historischen Kochbüchern des 18. und 19. Jahrhunderts auftauchen. Die sephardisch-orientalischen Juden als Nachfahren jener Juden, die sich nach ihrer Vertreibung von der iberischen Halbinsel (1492 und 1513) hauptsächlich im Osmanischen Reich, in Nordwestafrika (Maghreb) und in den europäischen Seehandelsstädten (Amsterdam, Hamburg oder Livorno) niederließen, brachten ebenfalls ihr Küchenerbe in die jüdische Küche ein. Damit ist ein breites Spektrum an potenziellen Zutaten (innerhalb der Kaschrut), an Gewürzen und Geschmacksvaleurs, Zubereitungsarten und Kochtechniken gleichermaßen vorprogrammiert.
Fließende Grenzen
Manchmal verliefen die Grenzen buchstäblich fließend, wie etwa im rumänischen und bulgarischen Donauraum, wo hauptsächlich die Aschkenasim siedelten, oder im Schwarzmeergebiet, wo die Sephardim eine neue Heimat fanden. Elias Canetti, der 1905 im bulgarischen Russe als Sohn einer wohlhabenden sephardisch-jüdischen Kaufmannsfamilie geboren wurde, erinnert sich in seiner Biografie noch an sein Lieblingsgericht, das beim Pessachfest auf den Tisch kam: Chaminados, eine Spezialität der spaniolischen Juden in Bulgarien. Dabei handelt es sich um Eier, die man in einem Sud aus Wasser mit verschiedenen Gewürzen wie Piment, Gewürznelken, Zimt, Knoblauchzehen, Zitronen- und Orangenschalen, sowie Kaffee oder Zwiebel (zur Färbung der Eier) tagelang im Ofen garte. Im Phänomen der Beheimatung bildet eben Essen eine essenzielle Facette.
Jüdische Kochkultur ging aber auch stets über lokale Tradition hinaus, bedingt durch die internationale Vernetzung der Familien, die Reisetätigkeit der Händler, durch Rabbiner, aber auch Bettler. Diese zumeist unfreiwillige Mobilität erzwang immer wieder Adaptionen und Kombinationen im Sinne der Kaschrut.
Jüdisches Hausfrauenwissen
Im Fokus des Genres jüdischer Kochbücher standen Kontinuität und Tradition, wie das etwa schon Lady Judith Montefiore, die ihre Bücher in England schrieb, 1846 betonte und zugleich die Verstöße monierte: „Die meisten dieser Bücher sind mit Informationen zu verschiedenen Themen übersättigt, doch für eine jüdische Hausfrau vollkommen wertlos, nicht nur wegen der verbotenen Zutaten und Kombinationen, die für fast alle Gerichte als notwendig betrachtet werden, sondern auch, weil besonders für Juden typische Gerichte fast vollständig fehlen.“ Wie sehr jüdische Kochbuchautorinnen gegen die Kaschrut verstießen, zeigt etwa das Beispiel der Sarah Cohn (geb. Uhlfelder), die in ihrem Israelitischen Kochbuch den Rat gibt, bei Fragen zur Kaschrut gegebenenfalls den Rabbiner zu konsultieren, sieben Seiten später aber ausführlich das küchengerechte Zerlegen eines Hasen erörtert und wenig später auch die Zubereitung von Aal erklärt, obgleich beide Tiere keineswegs als koscher eingestuft sind.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum einzelne jüdische Kochbuchautorinnen wie etwa Marie Kauders die jüdischen Speisegesetze bereits in Schutz nehmen, da man ihnen im aufgeklärten Judentum offensichtlich nur mehr marginale Bedeutung beizumessen gewillt war. „Die jüdische Hausfrau möge die vorgeschriebenen Pflichten nicht für überflüssig ansehen, die Erfüllung derselben wird ihr gewiss nicht schwer fallen, so sie bedenkt, daß eine recht religiös = jüdische Richtung von ihr eingeschlagen, das Fundament ihres glücklichen Familienlebens bildet. (…) Das Koschermachen ist nicht nur ein religiöses Gebot, sondern auch in sanitärer (gesundheitlicher) Beziehung sehr notwendig.“
Ihr Vollständiges israelitisches Kochbuch mit Berücksichtigung der österreichischen, ungarischen, deutschen, französischen und englischen Küche, das 1903 in Prag erschien, ist übrigens nach wie vor im Buchhandel erhältlich.