Die Position der Halacha als jüdischer Rechtskodex gegenüber der Abtreibung ist – wie in vielen anderen Fragen – höchst komplex. Die Tora berührt das Thema Abtreibung gar nicht.
Die Mischna, die mündliche Überlieferung, gebietet den Abbruch einer Schwangerschaft für den Fall, dass das Leben der Mutter durch diese in Gefahr ist. Der Talmud bezeichnet den Fötus bis zum 40. Tag schlicht als Wasser, und die Weisen sehen keinen Grund, die Gesetze über Mord auf den Fötus anzuwenden. Der Embryo wird nicht als Person bezeichnet, daher finden auch die jüdischen Trauergesetze für diesen keine Anwendung.
Andererseits stellt der Talmud jedoch fest, dass eine Abtreibung unter das Noachidische Verbot des Blutvergießens fällt. Viele Rabbiner argumentierten auch, dass Abtreibung und Empfängnisverhütung der Mizwa der fruchtbaren Vermehrung entgegenstehen. Jedenfalls entwickelten sich auf Basis dieser Quellen zwei Stränge in den halachischen Überlegungen zur Abtreibung: Im Prinzip ist eine solche verboten. Ist jedoch das Leben der werdenden Mutter in Gefahr – egal ob physisch oder psychisch – so ist eine Abtreibung nicht nur zulässig, sondern etwa nach Maimonides sogar geboten. Eine solche Abtreibung kann bis zum Zeitpunkt der tatsächlichen Geburt erfolgen, weil erst dann das Kind ein eigenständiger Mensch ist.
In Israel muss vor einer Abtreibung die Zustimmung eines „Termination Committee“ eingeholt werden. Dieses besteht aus einer Gynäkologin, einem weiteren Arzt, der entweder der Familienarzt, ein Psychiater, Internist oder Gynäkologe ist und einem Sozialarbeiter, wobei zumindest ein Mitglied eine Frau sein muss. Als Gründe für die Genehmigung einer Abtreibung gelten: Alter der Schwangeren (unter 17 oder über 40); illegales Zustandekommen der Schwangerschaft, z. B. durch Vergewaltigung, Inzest oder außerhalb einer Ehe; physische oder psychische Defekte des Fötus; oder Umstände, unter denen eine Fortsetzung der Schwangerschaft das Leben der Frau gefährden oder ihr physischen oder psychischen Schaden zufügen könnte. In der Praxis werden die meisten Anträge genehmigt, und es finden darüber hinaus viele Schwangerschaftsabbrüche illegal in Arztpraxen statt.
Wichtige Beratung
Konservatives und Reformjudentum, welches vor allem in den USA beheimatet ist, hält Abtreibungen für gerechtfertigt, wenn die Fortsetzung einer Schwangerschaft der Frau schweren physischen oder psychologischen Schaden zufügen könnte oder wenn der Fötus aufgrund einer medizinischen Diagnose als schwer geschädigt eingeschätzt wird. Die Entscheidung zu einer Abtreibung solle nie leichtfertig getroffen werden; es wird der Frau empfohlen, sich davor mit dem biologischen Vater, anderen Familienmitgliedern, ihrem Arzt, ihrem Rabbiner und jeder anderen Person zu beraten, die ihr helfen kann, diese schwerwiegende Entscheidung zu treffen. Das Reformjudentum erlaubt darüber hinaus einen Abbruch auch ausdrücklich im Falle einer Schwangerschaft infolge einer Vergewaltigung oder von Inzest.
Die Haltung zur Abtreibungsfrage gilt daher im Judentum als jene Frage, die am wenigsten umstritten ist. Eine jüdische US-amerikanische Publikation führte 2012 eine Umfrage durch, bei welcher 93 Prozent der jüdischen Befragten angaben, in allen bzw. den meisten Fällen für das Recht einer Frau auf eine Abtreibung zu sein.