Nach einem weiteren Attentat auf eine jüdische Einrichtung in Europa ist eine nüchterne Analyse der Situation
angebracht – keine Angstmacherei und Hysterie und schon gar nicht der Missbrauch des Anschlags für politische
Kampagnen. Zur Situation der Juden in Europa einige harte Fakten: In einer vor kurzem veröffentlichten
Untersuchung des renommierten US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center wurde die Einstellung
der Bevölkerung in den sieben größten EU-Ländern gegenüber Juden abgefragt. Das Ergebnis: In Frankreich,
Großbritannien und Deutschland haben lediglich zehn Prozent oder weniger der Einwohner eine negative Einstellung
gegenüber Juden – Tendenz stark fallend. So ist etwa in Deutschland der Anteil der judenfeindlich eingestellten Personen von 24 Prozent (1991) auf heute fünf Prozent gefallen. Das ist ein erstaunliches Ergebnis, zumal wir von der jüdischen Gemeinde Wiens und auch anderen jüdischen Organisationen laufend Horrormeldungen über den dramatischen Anstieg des Antisemitismus in Europa bombardiert werden.
Auch Avi Primor, der Leiter des Zentrums für europäische Studien an der Universität Herzlia und einst israelischer
Botschafter in Deutschland, hat die Entwicklung des Antisemitismus eingehend studiert. Über das Ergebnis sagte er jüngst bei einer Buchpräsentation im Jüdischen Museum in Wien: „Unsere Untersuchung zeigt, dass der Antisemitismus seit dem Zweiten Weltkrieg ständig schrumpft. Er schrumpft überall. Damit wir uns aber nicht missverstehen: Das bedeutet nicht, dass es keinen Antisemitismus mehr gibt. Es gibt in Europa weiterhin den Antisemitismus, es gibt Neonazis und Nazis. Das gibt es alles. Aber das alles wächst nicht, im Gegenteil – es
geht zurück.“
Sorge hingegen bereitet ein neuer Antisemitismus: Der Judenhass von in Europa lebenden Moslems, den diese aus ihren Heimatländern mitgenommen haben und der durch den Konflikt im Nahen Osten ständig genährt wird. Dafür sorgen – ganz bewusst – auch Politiker wie der türkische Regierungschef Erdogan sowie muslimische Hassprediger. Solche irregeleitete Menschen verüben dann Anschläge wie jenen auf eine jüdische Schule in Toulouse im Jahr 2012, bei dem sieben Menschen ermordet wurden. Auch der Attentäter von Brüssel hat offensichtlich aus diesen Motiven gemordet.
Das führt zu einer grotesken Situation: Während sich die jüdischen Gemeinden in Europa innerhalb der traditionellen
Gesellschaften viel sicherer fühlen, ja sogar auf Interesse und Sympathie stoßen, werden jüdische Einrichtungen verstärkt vor radikalen Moslems geschützt. So gleicht das jüdische Zentrum beim Praterstadion mit der ZPC-Schule, dem Maimonides-Heim und dem Hakoah-Sportzentrum mit seinen Betonmauern, Umzäunungen und allgegenwärtigen Kameras einem Hochsicherheitsgefängnis. Das ist deswegen so bedauerlich, weil dadurch eine unglaubliche Abschottung der jüdischen Gemeinde entsteht und unsere Kinder mit dem Gefühl aufwachsen, von einer feindlichen Umwelt umgeben zu sein. Auf der anderen Seite reagieren Nicht-Juden befremdet, weil sie diese rigorose Abschottung zumeist nicht verstehen können.
Was also tun? In der letzten Ausgabe unseres Magazins NU hat der USamerikanische Rabbiner Marc Schneier darauf hingewiesen, dass es die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts für uns Juden sei, die Kluft zwischen Moslems und Juden zu verkleinern. Wir Juden, aber auch die europäischen Gesellschaften insgesamt, sind tatsächlich dringend gefordert, den Dialog mit den Muslimen aufzunehmen. Dabei ginge es nicht um Beschwichtigungsübungen,
auch nicht um die Lösung des Nahost-Konfliktes. Gefordert wären vielmehr klare Bekenntnisse von führenden muslimischen Persönlichkeiten gegenüber dem Antisemitismus in ihren Gemeinden und eindeutige Verurteilungen von Gewalttaten. „Menschen, die für ihre eigenen Rechte eintreten, sind nur dann ehrenwert, wenn sie sich auch für die Rechte der anderen einsetzen“, fordert Rabbiner Schneier von seinen muslimischen Gesprächspartnern. Die
muslimischen Gemeinden müssen erkennen, dass eine weitere Radikalisierung ihrer Mitglieder am Ende ihnen selber am meisten schaden würde.
Wir Juden müssen uns aber vor Angstmacherei und politischem Missbrauch schützen. Wer dauernd und bei jeder Gelegenheit schrill „Pogrom!“ schreit, fördert ausschließlich die Abstumpfung der Menschen in Europa gegenüber
diesem Problem. Es sind jedoch genau die Gesellschaften, in deren Mitte wir als Juden leben, mit denen wir gemeinsam diesen Weg gehen müssen und deren Unterstützung wir benötigen.