Antony John Blinkens Leben „könnte einem jüdischen High-Society-Drehbuch“ entstammen, schrieb einmal die „Washington Post“. Seine Freunde beschreiben den Karrierediplomaten als Mann mit Humor. Angesichts der Weltlage wird ihn der Außenminister der Biden-Administration auch gut brauchen können.
VON THOMAS LANGPAUL (WASHINGTON)
Als Tony Blinken Mitte Februar vor den Vereinten Nationen zur Krise rund um die russische Bedrohung der Ukraine sprach, wusste noch niemand, wie die Geschichte ausgehen wird. Russland hatte seine militärische Präsenz rund um das Nachbarland seit Monaten ausgebaut, mehr als 150.000 Soldaten standen zu einem Angriff bereit, der am 24. Februar schließlich erfolgte. Die westliche Welt fürchtete bereits einen breiten militärischen Angriff Russlands, nachdem russische Truppen 2014 die Halbinsel Krim annektierten und Teile der östlichen Grenzregion der Ukraine besetzten. Er sei hier, um einen Krieg zu verhindern und nicht, um einen zu beginnen, so der US-Außenminister vor der UNO – und macht klar, dass Europa und die Welt an einem entscheidenden Punkt der Geschichte angekommen sind.
Zu diesem Zeitpunkt ist Tony Blinken seit etwas mehr als einem Jahr Ressortchef im State Departement der Vereinigten Staaten und damit Chef über mehr als 13.000 Diplomatinnen und Diplomaten weltweit – und das Gesicht der US-Außenpolitik in der Welt. Arbeit gibt es in diesem ersten Jahr jedenfalls genug, nicht nur aufgrund der russischen Invasion der Ukraine. Das Ende des zwanzig Jahre dauernden Kriegs in und der Abzug aus Afghanistan, die Konfrontation mit China, die in der Administration von Präsident Joe Biden als zentrale außenpolitische Aufgabe gesehen wird, und zahlreiche weitere Themen fordern Blinken heraus.
Der Karrierediplomat, der in seinen Ausführungen immer sachlich bleibt, wurde innerhalb kurzer Zeit zu einem der profiliertesten Mitglieder von Bidens Kabinett. Die Neigung vieler Politiker, sich selbst zur Story zu machen, ist Tony Blinken fremd.
Die frühen Jahre
Menschen, die mit ihm gearbeitet haben, beschreiben Blinken als durch und durch „internationale“ Person, eine Zuschreibung, die auch mit seiner familiären Herkunft zu tun hat: Nach der Trennung seiner Eltern zieht der 1962 im Bundesstaat New York geborene Blinken im Jahr 1971 mit seiner Mutter nach Paris. Die Zeit in Frankreich ist prägend. Der damals knapp Zehnjährige besucht eine internationale Schule, erwirbt nahezu akzentfreie Französischkenntnisse und einen großen Horizont. Der Lebensgefährte seiner Mutter, Samuel Pisar, ein Überlebender der Schoah, ist Anwalt, Autor und Berater des damaligen französischen Präsidenten Valerie Giscard d’Estaing. Der heutige US-Außenminister weiß von Gesprächen mit seinem Stiefvater, der über seine Erfahrungen in den Konzentrationslagern Auschwitz und Dachau berichtete, und dass dessen politische Ansichten ihn maßgeblich prägten. Später, während seines Studiums in Harvard, verfasst Blinken für die Universitätszeitung Harvard Crimson mehrere Artikel über Israel. Es sei nicht das moralisch perfekte Land, das nicht kritisiert werden dürfe – so wie manche Unterstützer es gerne sehen würden –, schreibt er damals, aber es stehe auf dem Fundament der Demokratie; und schon das mache Israel als Staat im Nahen Osten einzigartig. Schon in den Pariser Jahren entwickelt sich neben dem wachsenden Interesse für Politik und Internationalität jedoch noch eine zweite Leidenschaft: die Musik.
Von Clinton zu Obama
In einem Interview für das Rolling Stone Magazine outet sich Blinken: Seit er denken könne, sei er ein Fan der Beatles gewesen, Sgt. Pepper die erste Langspielplatte, das er sich selbst gekauft habe. Im Alter von sieben Jahren griff er zum ersten Mal zur eigenen Gitarre, spielte sowohl in Paris als auch später in den USA in verschiedenen Bands – und noch heute habe er einige Gitarren zuhause herumliegen. Als musikalische Vorbilder nennt er B.B. King, Bob Dylan, The Who und vor allem Eric Clapton. Sucht er Entspannung und Ablenkung von der Politik, zieht es ihn nach wie vor zu britischen und amerikanischen Popklassikern der Sechziger- und Siebzigerjahre.
Nach dem Studium kehrt Blinken zurück in die Vereinigten Staaten. Politik und internationale Beziehungen werden die großen Themen seiner beruflichen Karriere. Mit seiner Leidenschaft für Außenpolitik ist Tony Blinken dabei auch innerhalb der Familie nicht allein: Unter Präsident Bill Clinton wird sein Vater, der Investmentbanker Donald Blinken, Mitte der 1990er Jahre Botschafter in Ungarn; zur selben Zeit wird sein Onkel Botschafter in Belgien. Während der Clinton-Administration arbeitet er für den Nationalen Sicherheitsrat, wo er auch Reden für den Präsidenten schreibt. In dieser Zeit lernt er seine spätere Frau Evan Ryan kennen, die im Kabinett von Clinton Staatssekretärin für Bildung und Kultur ist. Bei ihrer Hochzeit im Jahr 2002 bedankt sich Blinken bei allen, die für Bill Clinton stimmten, weil er seine Frau sonst nie kennengelernt hätte. Die Trauung wird sowohl von einem Rabbi als auch von einem katholischen Priester vollzogen – Ausdruck der unterschiedlichen Konfessionen des Paares.
Unter Barack Obama wird Blinken schließlich Nationaler Sicherheitsberater, später stellvertretender Außenminister. Aus dieser Zeit stammt auch das enge Verhältnis zum jetzigen Präsidenten, Joe Biden, dessen Nationaler Sicherheitsberater er jahrelang war.
Experte mit Anspruch
In der neuen Rolle als Chef des US-Außenministeriums muss Tony Blinken nicht nur die USA nach außen vertreten, sondern er hat auch im Innenverhältnis viel zu tun. Nach vier Jahren der Präsidentschaft von Donald Trump und dessen „America First“-Doktrin fühlten sich viele Spitzenbeamte des State Departement an den Rand gedrängt, ihre Expertise unerwünscht. Hunderte Stellen sind zu Beginn der Amtszeit von Joe Biden als Präsident und Tony Blinken als Ressortchef nicht besetzt, die Moral der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist an einem Tiefpunkt. In seiner ersten Rede vor ausgewähltem Publikum des Hauses sagt Blinken daher auch, dass er hinter den Diplomaten und Experten stehe – ein klarer Seitenhieb auf seinen Vorgänger Mike Pompeo und dessen Art, das Außenministerium zu führen. „Die Welt kann ihre Probleme besser lösen, wenn die USA dabei sind“, so Blinken. Er werde die USA zurück auf die internationale Bühne führen. Sein Anspruch ist es auch, das Personal des State Departement diverser zu machen.
„Wenn es die Absicht Moskaus ist, irgendwie zu versuchen, die ukrainische Regierung zu stürzen und ein eigenes Marionettenregime zu installieren, werden 45 Millionen Ukrainer sich auf die eine oder andere Weise wehren“, so Blinken in einem Interview mit der BBC, und dass der Krieg bereits jetzt nicht so verlaufen sei, wie der russische Präsident Wladimir Putin ihn sich vorgestellt habe. Diplomatisches Geschick wird jedenfalls weiterhin unbedingt von Nöten sein.