Kein Gras über die Sache wachsen lassen

Geschichte erleben und auch gleich selber mit anpacken – das kann man zweimal im Jahr am Zentralfriedhof.
Von Anna Schiester (Text) und Verena Melgarejo (Fotos)

Es ist Sonntag, der 8. Mai. Muttertag. Während am Heldenplatz Burschenschafter ihr jährliches Totengedenken veranstalten, leisten etwa vierzig Menschen am ersten Tor des Zentralfriedhofs einen etwas anderen Beitrag, um die Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Sie sind gekommen, um mehr über den jüdischen Teil des Zentralfriedhofs zu erfahren – und, um überwucherte Grabsteine „mit der Gartenschere“ von Unkraut zu befreien. Die Geschichte des jüdischen Friedhofs ist ebenso Teil der Führung wie das Erklären von Begräbnisritualen und ein Einblick in die jüdische Gemeinde vergangener Zeiten.

Robert Streibel, Koordinator des Vereins „erinnern.at“ und Direktor der VHS Hietzing, veranstaltet diese „Führungen mit der Gartenschere“ durch den jüdischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs seit 2003 zweimal im Jahr. Bereits davor hat der Zeithistoriker in Krems eine Initiative zur Erhaltung des jüdischen Friedhofs ins Leben gerufen. Gemeinsam mit dem Verein „Freunde des jüdischen Friedhofs“ haben am Nationalfeiertag im Jahr 2003 80 Freiwillige jüdische Gräber in Krems von Unkraut befreit und den Friedhof so wieder begehbar gemacht. Seither wird diese Aktion regelmäßig von Schülern wiederholt.

Das „Befreien“ der Gräber sei dringend notwendig, sagt Streibel. Denn das Unkraut zerstöre die Steine, für die Gräber fühle sich aber niemand verantwortlich, da viele der hier begrabenen Toten keine Nachkommen hätten. Die jüdische Gemeinde in Krems etwa kann den Friedhof nicht mehr pflegen – seit der Vertreibung in den Jahren 1938/39 gab es sie nicht mehr. Grund für Streibels Führungen ist nicht zuletzt auch, dass er kein Gras über die tragische Geschichte des Judentums wachsen lassen will. Es sei nicht genug, dass am 5. Mai, dem Tag gegen Gewalt und Rassismus im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus, der Nationalrat eine Gedenkveranstaltung abhalte. Jeder Bürger müsse seinen Beitrag leisten und Verantwortung übernehmen. Streibel: „Die Geschichte des Judentums darf nicht nur eine Geschichte der Toten sein und darf nicht bei den Leichenbergen der Konzentrationslager enden oder beginnen.“ Vielmehr sieht er „die Toten der jüdischen Friedhöfe als mögliche Bindeglieder zwischen Vergangenheit und Gegenwart“.

Für Streibel ist der jüdische Friedhof ein Ort, an dem einige Facetten jüdischen Lebens sichtbar gemacht werden können. Die Geschichte des jüdischen Friedhofs ist ebenso Teil der Führung wie das Erklären von Begräbnisritualen und ein Einblick in die jüdische Gemeinde vergangener Zeiten. Ausgangspunkt der Führung bildet eine Wiese beim ersten Tor, von der aus die Teilnehmer einen guten Blick auf zwei große Grabsteine haben. Unter dem einen liegt Sigmund Bosl begraben, ein erfolgreicher Bankier und Spekulant des 19. Jahrhunderts. Das andere ist das Grab der Familie Guttmann, ebenfalls erfolgreiche Vertreter des jüdischen Wirtschaftslebens und bekannt für ihre Wohltätigkeitsaktionen. Auf beiden Grabstätten finden sich kaum jüdische Symbole, vielmehr sind sie in neugotischem Stil gebaut. Für Streibel stellt das eine erste mögliche Facette jüdischen Lebens dar: Assimilation.

Streibel sieht nicht nur im möglichen Assimilationsverhalten Parallelen zur heutigen Gesellschaft: Die Debatten, die heute der Bau von Moscheen auslöst, wurden auch schon früher ähnlich heftig geführt. Auch die Argumente von damals und heute ähneln sich sehr: Synagogen sollten nicht im Zentrum erbaut werden, nicht größer sein als Kirchen, am besten gar nicht erst erkennbar, und auch Lärm durfte von der Synagoge auf keinen Fall ausgehen.

Als der Zentralfriedhof im letzten Drittel des 19.Jahrhunderts erbaut wurde, stand er für Toleranz und Gleichberechtigung. Denn er wurde für alle Toten geschaffen, unabhängig davon, welcher Religion sie angehören. Die Eröffnungsrede des damaligen Predigers der Kultusgemeinde, Adolf Jellinek, im Jahr 1874 zeigt die Freude über den Anbruch einer neuen Ära: „Der Central-Friedhof bezeichnet die moderne Zeit, unsere Siege auf der ganzen Linie des staatlichen Lebens.

Mit seinen stummen Leichensteinen wird er den Beginn einer neuen Geschichtsphase verkünden“, sagte er. Dem Friedhof kommt im Judentum eine wichtige Bedeutung zu. Das zeigt sich auch darin, dass es im Hebräischen viele Bezeichnungen für „Friedhof“ gibt: Haus des Lebens, Haus Israels oder Haus der Ewigkeit. Und für die Ewigkeit ist auch ein jüdischer Friedhof gebaut. Die Auflassung eines Friedhofs sieht das Judentum nicht vor. Um das zu verhindern, hat die Kultusgemeinde den jüdischen Teil des Zentralfriedhofs auch gekauft. Auch das Exhumieren von Toten ist verboten. Diese Möglichkeit besteht nur dann, wenn die Überreste des Toten nach Israel überführt werden, wie z. B. bei Theodor Herzl, der allerdings nicht am Zentralfriedhof, sondern am Währinger Friedhof begraben war.

Immer noch auf der grünen Wiese hinter dem Eingang erzählt Streibel von einer tragischen Episode jüdischen Lebens: Während des Nationalsozialismus war es Juden neben vielem anderen verboten, einen Park zu betreten oder Straßenbahn zu fahren. Allerdings sei es erlaubt gewesen, die Straßenbahnlinie 71 zu benutzen, um den Friedhof zu besuchen. Viele jüdische Jugendliche nutzten diese Möglichkeit, um am Areal des ersten Tors zumindest einen kleinen Teil ihrer eingeschränkten Jugend auszuleben: Auf der Wiese beim Eingang spielten sie Ball, pflanzten Gemüse an, verliebten sich.

Immer wieder taucht während der Führung der Gedanke auf, warum es den jüdischen Friedhof heute überhaupt noch gibt. Warum haben die Nazis ihn nicht zerstört, wie so viele jüdische Denkmäler und Synagogen auch? Streibels Antwort darauf: „Wenn ich Menschen vernichten will, muss ich nicht auch noch Steine vernichten.“ Schändungen von jüdischen Friedhöfen hätte es durchaus gegeben, aber nach dem Novemberpogrom sei Als der Zentralfriedhof im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erbaut wurde, stand er für Toleranz und Gleichberechtigung. Denn er wurde für alle Toten geschaffen, unabhängig davon, welcher Religion sie angehören. eine weitere Zerstörung nicht das Ziel gewesen. Dagegen hätte es wohl auch Widerstand gegeben und weitere Zerstörungen hätten auch nicht ganz in einen Prozess gepasst, der alles legal aussehen lassen sollte.

Am Ende der Führung und am eigentlichen Beginn des Gräber-Befreiens bricht ein gewaltiger Regenschauer über den Friedhof herein. Das Befreien der Gräber wird unmöglich. Es dauert aber noch eine Weile, bis sich alle Teilnehmer auf den Heimweg machen. Sie alle wollen etwas tun, auch wenn sie aus unterschiedlichen Gründen gekommen sind: Die einen wollen Verantwortung für die Geschichte übernehmen, die anderen sind einfach aus Interesse hier. Wieder andere wussten gar nicht, dass es eine Führung gibt, und waren ursprünglich nur an der Gartenarbeit interessiert. Die meisten Teilnehmer wollen aber im Herbst zur nächsten Führung wiederkommen, um das Gras von den Gräbern zu schaffen und die Geschichte wieder an die Oberfläche zu holen.

Interessenten an den Friedhofstouren wenden sich bitte an:
+43 1 804 55 24-12 oder
r.streibel@vhs-hietzing.at
(Volkshochschule Hietzing)

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