Die Physikerin Lise Meitner trug wesentlich zur Entdeckung der Kernspaltung bei. Den Nobelpreis dafür erhielt Otto Hahn 1946 allerdings allein. Bis zu ihrem Tod wurde die Wissenschaftlerin 48 Mal für diese Auszeichnung vorgeschlagen – vergeblich.
Von Tanja Traxler
Als Lise Meitner 1878 in der Wiener Leopoldstadt geboren wird, sind Frauen in der Wissenschaft eine absolute Ausnahme. Groß sind die Hürden, die das hochbegabte Mädchen überwinden muss, um letztlich eine der führenden Wissenschaftlerinnen ihrer Zeit zu werden. Ihre jüdische Familie legt zwar großen Wert auf Bildung, doch für Mädchen ist der Besuch von höheren Schulen nicht vorgesehen, geschweige denn ein Studium an der Universität. Die äußeren Umstände können der innerlichen Entschlossenheit von Lise Meitner aber keinen Abbruch tun. „Ich war seit meinem 13. Jahr von dem Wunsch besessen, mich zur Gymnasial-Matura vorzubereiten, um Mathematik und Physik zu studieren“, schreibt Meitner später in ihren Erinnerungen.
Meitners Eltern unterstützen die Ausbildung ihrer Töchter. Zwei Jahre nach ihrer älteren Schwester Gisela tritt Lise 1901 als Externistin an einem Knabengymnasium zur Matura an – es ist die damals einzige Möglichkeit für Mädchen, die Hochschulreife zu erlangen. An die schwierige Prüfung in einer fremden Umgebung durch ihr unbekannte Lehrer wird sie sich noch 60 Jahre später erinnern: „Wir waren zusammen 14 Mädchen und legten ein nicht im mindesten einfaches Examen ab (nur vier von uns bestanden es).“
Wenige Jahre nach der erstmaligen Zulassung von Frauen zum Universitätsstudium in Österreich inskribiert Lise Meitner im Herbst 1901 an der Universität Wien, wo sie eine der ersten Physikstudentinnen ist. Ein prägender Lehrer für sie – fachlich wie persönlich – ist Ludwig Boltzmann. Ihr Neffe Otto Robert Frisch, der ebenfalls Physiker wird, erinnert sich an Meitners Schilderungen: „Sie hat oft über die ansteckend enthusiastischen Vorlesungen von Ludwig Boltzmann gesprochen; wahrscheinlich war er es, der ihr die Vision der Physik als eines Kampfes für die letzte Wahrheit gegeben hat, eine Vision, die sie nie verloren hat.“
Berühmter Kreis
1905 promoviert Meitner mit einer Arbeit über Wärmeleitfähigkeit von inhomogenen Körpern. Ein Jahr nach Boltzmanns Suizid übersiedelt sie im Herbst 1907 nach Berlin, da sie sich dort als Frau bessere Chancen für eine akademische Karriere erwartet.
Innerhalb kürzester Zeit ist die äußerst schüchterne Lise Teil eines Freundes- und Bekanntenkreises der berühmtesten Wissenschaftler ihrer Zeit. Max Planck, Max von Laue oder Albert Einstein zählen ebenso dazu wie Otto Hahn, mit dem sie jahrzehntelang zusammenarbeiten wird. Das neue Forschungsfeld, dem sich der Chemiker Hahn und die Physikerin Meitner widmen, ist die Radioaktivität.
Ein wichtiger Karriereschritt erfolgt 1912: Max Planck ernennt Meitner zu seiner Assistentin und damit zur ersten Frau in dieser Stellung an einer preußischen Universität. Ein wichtiger Durchbruch gelingt Meitner und Hahn 1918: Sie entdecken die neue radioaktive Substanz Protactinium. Im selben Jahr erhält Meitner im Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Dahlem eine eigene Abteilung. 1919 wird ihr als einer der ersten Frauen in Deutschland der Professorentitel verliehen.
Meitner kann ihre Stellung nach und nach verbessern. 1931 zieht sie, die ihr Leben lang alleinstehend bleibt, in eine geräumige Wohnung in der Direktorenvilla. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, befindet sie sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere.
Schwedisches Exil
Der Antisemitismus, der nun immer radikalere Ausprägungen annimmt, erreicht bald auch Meitner. Dass sie sich bereits 1908 hat protestantisch taufen lassen und nicht als Jüdin fühlt, bedeutet den Nationalsozialisten nichts: Sie fällt unter die rassistische Definition von „Nichtariern“. Ihre österreichische Staatsbürgerschaft bewahrt sie zunächst vor einigen antisemitischen Maßnahmen. Doch mit dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland im März 1938 ändert sich ihre Lage fundamental: Ihr österreichischer Pass verliert seine Gültigkeit, sie wird als „reichsdeutsche Jüdin“ betrachtet.
Mit Hilfe von Freunden gelingt ihr im Juli 1938 in letzter Minute die riskante Flucht über die Niederlande und Dänemark nach Schweden, wo sie eine befristete Stelle am Nobel-Institut erhält. In Berlin setzen Hahn und Fritz Straßmann indes jenes Experiment fort, an dem sie gemeinsam mit Meitner bis zu ihrer Flucht gearbeitet haben: der Beschuss von Uran mit Neutronen. Meitner, die das Experiment angestoßen hat und laut Straßmann auch im Exil die „geistig Führende in unserem Team“ bleibt, kann sich nur noch brieflich an den Arbeiten beteiligen.
Kurz vor Weihnachten stoßen Hahn und Straßmann auf verblüffende Resultate: Obwohl sie die Erzeugung noch schwererer Elemente als Uran erwarten, ergeben die chemischen Analysen unerwartet leichte Elemente. „Wir können unsere Ergebnisse nicht totschweigen, auch wenn sie physikalisch vielleicht absurd sind. Du siehst, Du tust ein gutes Werk, wenn Du einen Ausweg findest“, schreibt Hahn am 21. Dezember 1938 an Meitner. Sie findet ihn: Hahn und Straßmann ist, ohne ihr Wissen, der experimentelle Nachweis der Kernspaltung gelungen. Meitner und Frisch legen umgehend die erste Erklärung für das Phänomen vor, Frisch prägt den Begriff „Kernspaltung“.
Sofort stürzen sich Wissenschaftler aus aller Welt auf die Ergebnisse, doch schon im Jahr darauf verschwindet die Forschung zur Kernspaltung wieder zunehmend aus den wissenschaftlichen Veröffentlichungen: Mehrere Staaten arbeiten an der militärischen Nutzung des Prozesses, natürlich unter größter Geheimhaltung.
Grundstein der Tragödie
Mit ihrem Beitrag zur Entdeckung der Kernspaltung hat Lise Meitner an einer der großen wissenschaftlichen Entdeckungen des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgewirkt. Den Nobelpreis dafür erhielt Otto Hahn 1946 allerdings allein. Meitner wurde bis zu ihrem Tod 48 Mal für diese Auszeichnung vorgeschlagen – vergeblich. Ihre Arbeit legte aber auch den Grundstein für eine der großen Tragödien des 20. Jahrhunderts. An der Entwicklung der Atombombe hat sich Meitner im Gegensatz zu Frisch und etlichen Freunden und Kollegen aber nicht beteiligt.
Lise Meitner starb am 27. Oktober 1968 kurz vor ihrem 90. Geburtstag in Cambridge. „Ich kam immer zu dem Schluss, dass das Leben nicht einfach sein muss, solange es nur nicht inhaltslos ist“, sagte sie bei ihrem letzten Vortrag in ihrer Geburtsstadt Wien. „Und dieser Wunsch wurde mir erfüllt.“
David Rennert, Tanja Traxler
Lise Meitner
Pionierin des Atomzeitalters
Residenz, 2018
224 S., EUR 24,–