Werner Portmann und Siegbert Wolf ist mit ihrem Buch „Ja, ich kämpfte“ ein einmaliger Einblick in linksradikale jüdische Biographien im 20. Jahrhundert gelungen.
Von Thomas Schmidinger
Anhand der Biographien von Isak Aufseher, Jack Bilbo, Robert Bodanzky, Carl Einstein, Cilla Itschner- Stamm und Milli Witkop-Rocker erzählen die Autoren nicht nur Fußnoten der europäischen, jüdischen und sozialistischen Geschichte, sondern weit mehr. Die Biographien, die so tragisch wie spannend und vielschichtig sind, bilden eine Lebenswelt ab, die noch in den jüdischen Gemeinden und den europäischen Arbeiterbewegungen vor der Shoah wurzelt und einmal mehr zeigt, was die Shoah außer Millionen an Menschenleben noch gekostet hat: die Hoffnung auf allgemeine Emanzipation im Rahmen der revolutionären Arbeiterbewegungen Europas. So unterschiedlich die geschilderten Biographien denn auch sind, so geben sie genau jenes Spektrum der Hoffnungen wieder, die radikale jüdische Männer und Frauen in verschiedene Strömungen der radikalen Arbeiterbewegung, des Anarchismus oder anderer undogmatischer Linksradikaler setzten. Der Blick der Autoren ist dabei nicht auf die anarchistische „Prominenz“, wie Emma Goldman oder Erich Mühsam, gerichtet, sondern auf weniger Prominente. Die Anarchistin und Feministin Milli Wetkop-Rocker (1877–1955) etwa, deren Weg aus dem heute ukrainischen Städtchen Slotopol über London – wo sie ihren Lebenspartner Rudolf Rocker kennenlernte und sich in der jiddisch-anarchistischen Gruppe „Arbeyter Fraynd“ engagierte – in die USA führte. Der Untertitel des Buchs ist jedoch irreführend. Nur ein Teil der geschilderten Biographien beginnt im ostjüdischen „Schtetl“. Einige, wie Robert Bodanzky oder Carl Einstein, stammen aus dem emanzipierten deutschsprachigen Judentum.
So „unsystematisch“ die Auswahl der Biographien auch sein mag, so einfühlsam und interessant werden sie geschildert. Die Biographie Carl Einsteins, der als Künstler und Kunsttheoretiker zu Lebzeiten einige Popularität erlangen und sich nur durch Suizid der Verfolgung durch die Nazis entziehen konnte, wird dabei ebenso nachgezeichnet, wie jene von Cilla Itschner-Stamm, einer sehr aktiven Anarchistin, die nach gescheiterten Liebesbeziehungen und einer ebenso gescheiterten Ehe schließlich 36 Jahre lang einsam in der Psychiatrie einer Schweizer Klinik leben musste.
Man merkt auf jeder Seite des Buchs, dass sich hier zwei Autoren jahrelang mit den geschilderten Biographien beschäftigt haben, die Chance hatten, in Nachlässen zu stöbern und mit Nachkommen zu sprechen. Die Autoren versuchen immer wieder Querverbindungen zur jüdischen Geistesgeschichte zu ziehen und verorten die persönlich meist nicht mehr religiösen Revolutionäre in der jüdischen Tradition. Haben Anarchismus und Judentum auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun, so sehen die Autoren doch viele Gemeinsamkeiten. Sie berufen sich dabei auf Gershom Scholem, der nicht im Zionismus, sondern in Anarchismus die messianische Utopie sah. Anarchismus also als Fortsetzung des Judentums? Die Frage wird sich durch die Vernichtung nicht nur des europäischen Judentums, sondern auch der radikalen Arbeiterbewegung Europas durch die Nazis nicht mehr beantworten lassen.