Rabbiner Walter Rothschild schreibt Geschichten „Auf das Leben!“. Der Titel seines Buches ist durchaus wörtlich zu verstehen.
Von Anita Pollak
Was hat ein Rabbi immer bei sich? „Ich muss immer meinen Laptop bei mir haben“, so Walter Rothschild, der schreibende Rabbiner, der auch ein fliegender ist. Wird er doch von Berlin aus regelmäßig in die Wiener Reformsynagoge Or Chadasch eingeflogen, um Gottesdienste abzuhalten. Obwohl er eigentlich ein Eisenbahnfan ist, der, so eröffnet uns der Klappentext, gerade über die Geschichte des Eisenbahnbaus im Nahen Osten promoviert hat. Und eigentlich ist er auch kein Berliner, sondern ein gebürtiger Engländer, der Deutsch mit stark englischem Akzent spricht. Gerade umgekehrt wie die meisten Helden seiner Erzählungen, Emigranten, Angehörige kleiner englischer Gemeinden, die Englisch mit einem „schweren ,mitteleuropäischen‘ Akzent“ sprechen. Eine aussterbende Spezies.
Geschichten, die das Leben schrieb. Dieses abgedroschene Klischee liegt allzu nahe, wenn man Rothschilds Sammlung „Auf das Leben!“ liest. „Die Hälfte ist erzählt, die Hälfte erfunden“, gesteht er, schlauerweise allerdings nicht, was jeweils welcher Hälfte zuzurechnen ist.
Er ist diskret, er ist klug, er hat Humor. Er ist ein Rebbe.
Wenn es so was wie einen jüdischen Beichtvater gäbe, Rothschild erfüllte wohl die Job Description. Er ist ein guter Zuhörer, und Menschen erzählen ihm Geschichten, ihre Geschichten, vielmehr sie laden sie bei ihm ab. Gehen erleichtert, getröstet von dannen und er bleibt oft beschwert zurück. „Sie bleiben in meinem Kopf und ich muss sie schreiben, sonst werde ich verrückt“.
Zum Verrücktwerden sind viele, meschugge die meisten. Ja, auch Schutzengel und Geister, Exorzisten und Dibbuks treiben zuweilen ihr Wesen, aber eher nur am Rande, dort, wo sie hingehören. „Kabbala ist einfach nicht mein Bier“, geht der Rabbi unverblümt ans Werk. Von „Metaphern und Gleichnissen“ hält er ebenso wenig.
Seine Kundschaft ist, wie bei den meisten Geistlichen, dem Grab näher als dem Leben. Was bei der spezifisch jüdischen Klientel gleichbedeutend mit Überlebenden ist.
So ist das Trauma des Holocaust mit seinen oft bizarren posttraumatischen Erscheinungen fast naturgemäß die Quelle vieler Episoden, die sich anders nicht erzählen, nicht erklären ließen.
Da ist der alte einsame Mann, der kurz vor seinem Tod seine versäumte Bar Mizwah nachholen will. Seine ganze Familie, seine Freunde, die sich einst anlässlich seiner Bar Mizwah in der Synagoge versammelten, sind allesamt dort verbrannt, als die Deutschen das Gotteshaus anzündeten. Ein Nachgeborener muss das Leben seines ermordeten Bruders leben, ein Ehemann quasi das Kind seiner Frau werden. Indem er solche Überlebensgeschichten niederschreibt, folgt Rothschild nicht zuletzt auch dem jüdischen Gebot des Erinnerns, des niemals Vergessens.
„Auf das Leben!“, Le Chaim!, ist als Titel und Motto aber beim Wort zu nehmen. Das Leben nimmt sich sein Recht und siegt.
Was den Rabbi von seinem Kollegen, dem Kaplan, mit dem er sich ein Zimmer im Gefängnis teilt, wenn Insassen seinen Beistand oder ein Esspaket zu Pessach wünschen, was ihn also von diesem katholischen Kollegen sicherlich unterscheidet, ist etwa, dass er sich sehr gern von einem alten Frauenhelden in Liebesdingen unterweisen lässt. Jeder gute Rabbi lernt schließlich lebenslänglich und nie aus.
Und ganz nebenbei lernt man beim Lesen auch einiges. Übers Judentum, über Juden, die es nicht sein, und solche, die es werden wollen. Meschuggene Geschichten.