Hans Kelsen prägte als Rechtswissenschaftler maßgeblich die vor hundert Jahren verabschiedete österreichische Bundesverfassung mit. Seine jüdische Herkunft war vor allem für seine Gegner von Bedeutung. Ein Porträt.
Zu einem anderen Zeitpunkt wäre die Nachricht vielleicht untergegangen. Aber als Der Standard im Juli 2017 berichtete, dass der FPÖ-Abgeordnete Johannes Hübner im Jahr davor auf einem rechtsextremen Kongress in Deutschland den österreichischen Juristen Hans Kelsen mit „eigentlich Hans Kohn, aber er hat sich Kelsen genannt“ verspottet hatte, war die Partei bereits auf dem Sprung in die Regierung. Solche offenen antisemitischen Anspielungen konnte sich der damalige FPÖ-Chef Heinz Christian Strache nicht leisten. Hübner, der zum deutschnationalen Flügel der Partei zählt, zog seine Wiederkandidatur zum Nationalrat zurück.
Hübners Fehler war auch, dass er mit Kelsen, dem geistigen Vater der österreichischen Bundesverfassung, einen Säulenheiligen der Republik verunglimpft hatte – und dies mit einem Scherz, der in einer langen antisemitischen Tradition steht. Er geht auf Kelsens größten Widersacher, den rechtsnationalen deutschen Staatsrechtler Carl Schmitt, zurück, der seinen liberalen österreichischen Kollegen in den 1930er Jahren auf diese Weise verhöhnte. In den 1960er Jahren griff der Welthandel-Professor Taras Borodajkewycz den Kohn-Witz in seinen antisemitisch durchsetzten Vorlesungen auf. Bei Protesten gegen den ehemaligen illegalen Nazi wurde im März 1965 der kommunistische Pensionist Ernst Kirchweger von einem Rechtsextremisten getötet. Die Aufdeckung der Borodajkewycz-Affäre, an der unter anderem Ferdinand Lacina und Heinz Fischer beteiligt waren, war ein Weckruf für die Aufarbeitung von Österreichs NS-Vergangenheit.
Weltbilder
Der 1881 in Prag geborene und in Wien aufgewachsene Kelsen hat ein typisches jüdisches Schicksal erlitten: Aufgewachsen in einer kleinbürgerlichen jüdischen Familie, in der Bildung alles war, schaffte er den beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg, wurde von Antisemiten angefeindet, vom NS-Regime aus Europa vertrieben, nach dem Krieg von seiner alten Heimat Österreich zwar geehrt, aber nie zurückgerufen, und starb 1973 nach einer langen Laufbahn an US-amerikanischen Universitäten, ohne in den USA intellektuell je heimisch geworden zu sein. Und in diesem Jahr, in dem der 100. Geburtstag der von ihm so entscheidend mitgeprägten Bundesverfassung gefeiert wird, wird Kelsen posthum besonders geehrt.
Aber zum Judentum hatte Kelsen nie eine besondere Nähe. Im Alter von 24 Jahren ließ er sich römisch-katholisch taufen, 1912 wurde er evangelisch. Seine jüdische Herkunft war vor allem für seine Gegner von Bedeutung, allen voran für Carl Schmitt, einem der Vordenker des Nationalsozialismus, der Kelsens liberal-universelles Weltbild und seinen Einsatz für Demokratie und Frieden verachtete. „Wer Menschheit sagt, will betrügen“, ist einer seiner bekanntesten Sätze. Als Kelsen im April 1933 seine Stellung als Professor für Völkerrecht an der Universität Köln verlor, war Schmitt der einzige Fakultätskollege, der eine Petition zu seinen Gunsten nicht unterschrieb.
Kelsen und Schmitt waren nicht nur politische Feinde, sondern auch Gegenspieler auf dem Gebiet der Rechtswissenschaften. Während für Schmitts Rechtsverständnis das Primat der Politik ausschlaggebend war – in seinem Fall einer reaktionären, antidemokratischen und antisemitischen –, stand Kelsen in der Tradition des Rechtspositivismus und gab dieser Schule mit seiner „Reinen Rechtslehre“ eine feste theoretische Basis.
Kelsens Maxime war die strikte wissenschaftliche Trennung der Rechtswissenschaft, die auf Normen beruht, von Soziologie und Politik, also die Trennung von Recht und Moral. Recht ist das, was das Gesetz sagt, und unterscheidet sich von Gerechtigkeit. Kelsen grenzte sich damit scharf vom Naturrecht ab, das Recht von einem allgemein gültigen Wertesystem ableitet. Er hielt es für unwissenschaftlich. Sein Zugang war ein methodischer, und wurde im sogenannten Methodenstreit in der Weimarer Republik heftig diskutiert.
Auftrag und Aufstieg
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der Mythos auf, dass die Reine Rechtslehre dem Nationalsozialismus Vorschub geleistet habe, weil es den jeweiligen Machthabern ermögliche, Recht nach eigenem Gutdünken zu setzen. NS-Richter beriefen sich bei der Verteidigung ihrer Bluturteile darauf, sie hätten ja nur das damals geltende Recht gesprochen. Aber das war eine Fehlinterpretation von Kelsen: Die juristische Richtigkeit einer Gesetzesauslegung sagt für ihn nichts über die moralische Legitimität des Handelns aus. Erst die Trennung von Recht und Moral ermöglicht die moralische Beurteilung des Rechts.
Und politische Moral war für Kelsen zeit seines Lebens eine Schlüsselfrage. Er war nie Mitglied einer Partei oder Anhänger einer ideologischen Richtung. Aber er war ein konsequenter Anhänger der repräsentativen Demokratie, der Menschenrechte und eines friedlichen internationalen Zusammenlebens. Sein beruflicher Aufstieg begann in der Spätphase des Ersten Weltkriegs, als Kriegsminister Rudolf Stöger-Steiner von Steinstetten den jungen Militärjuristen als Rechtsberater holte, um Pläne für die zukünftige Stellung der k.u.k. Armee in einer Personalunion auszuarbeiten. Nach Ausrufung der Republik konsultierte ihn der erste sozialdemokratische Staatskanzler Karl Renner in Verfassungsfragen, im März 1919 wurde er mit der Ausarbeitung der neuen Verfassung beauftragt. Zu dem am 1. Oktober 1920 verabschiedeten Bundesverfassungsgesetz (B-VG) stammen vor allem die Abschnitte zur Verfassungsgerichtsbarkeit von Kelsen. Der von ihm entworfene Verfassungsgerichtshof (VfGH), der Gesetze prüft und damit über dem Gesetzgeber steht, wurde zum Vorbild für andere Staaten.
Bereits 1919 wurde der parteiunabhängige Kelsen mit den Stimmen aller Parteien zum Verfassungsrichter gewählt. Er stand zwar den Sozialdemokraten nahe, hatte aber auch ein gutes Verhältnis zum Christlich-Sozialen Ignaz Seipel, der 1922 erstmals Bundeskanzler wurde. Im Laufe der 1920er Jahre wurde Kelsen immer mehr zum Feindbild für konservative Kräfte, vor allem im Zuge einer Reihe familienrechtlicher Entscheidungen des VfGH. Das katholische Österreich kannte keine Scheidung, aber einige SP-Landeshauptleute erlaubten die Wiederverheiratung nach einer Trennung. Unter Kelsens Führung wurden diese „Dispensehen“ für verfassungskonform erklärt. Kirche und Christlich-Soziale zettelten daraufhin einen Sturm an, Kelsen und Kollegen wurden Nihilismus und Begünstigung der Vielweiberei vorgeworfen. Ein spezielles Verfassungsgesetz setzte alle auf Lebenszeit ernannten Richter ab.
Deutschnationale Proteste
Die Wiederernennung durch die Sozialdemokraten allein lehnte Kelsen 1930 ab, seine Unabhängigkeit war ihm wichtiger als die Position als Verfassungsrichter. 1930 ging er auf Einladung des Kölner Oberbürgermeisters Konrad Adenauer als Professor für Völkerrecht an die Universität Köln, von wo er 1933 vertrieben wurde. Seine weiteren Lebensstationen waren Genf, Prag, wo seine Ernennung zum Ordinarius 1936 gewalttätige Proteste deutschnationaler Studenten auslöste, und schließlich 1940 die USA, zuerst in Harvard und ab 1942 an der University of California in Berkeley. In der US-Rechtswissenschaft, die auf anderen Grundlagen basiert als die kontinentaleuropäische, war er nie zuhause. In Berkeley lehrte er bis zu seiner Emeritierung 1957 Politikwissenschaft.
Im deutschsprachigen Raum gilt Kelsen bis heute als einer der bedeutendsten juristischen Vordenker; für seinen Schüler Horst Dreier war er „Jurist des Jahrhunderts“. Auch wenn die Reine Rechtslehre heute nicht mehr die gleiche Bedeutung hat wie vor hundert Jahren, ist Kelsen auch in Deutschland ein großer Name – berühmt genug, dass FPÖ-Mann Hübner mit seinem „Kelsen heißt eigentlich Kohn“-Witz auch vor einem rechtsextremen deutschen Publikum schallendes Gelächter auslösen konnte.
In Österreich wird er als Schöpfer jener Bundesverfassung, die mit einigen Veränderungen heute noch in Kraft ist, nicht nur von Juristen verehrt. Als Bundespräsident Alexander Van der Bellen nach dem Platzen der ÖVP-FPÖ-Koalition und dem Sturz der Regierung Kurz durch ein Misstrauensvotum von der „Eleganz und Schönheit der Verfassung“ schwärmte, huldigte er damit auch ihrem Schöpfer. Auch das in Österreich besonders strikt eingehaltene Legalitätsprinzip, wonach die Verwaltung nur auf Grundlage von präzisen Gesetzen arbeiten darf, ist sein Vermächtnis. Zwar hört man aus Juristenkreisen immer wieder Klagen, dass dieses Prinzip den Behörden zu wenig Flexibilität gebe. Aber gerade in der Coronavirus-Krise, als die ersten Covid-Verordnungen so unklar formuliert waren, dass niemand genau wusste, was erlaubt war und was nicht, haben sich viele den Kelsen’schen Geist herbeigewünscht.
Völkerrecht für den Frieden
Auch dass die Bundesverfassung so gut mit dem Völkerrecht harmonisiert, ist ein Vermächtnis Kelsens. Er betrachtete das Völkerrecht als gleichwertiges Rechtssystem und trug entscheidend zu dessen späterer Entwicklung bei. So findet sich schon in der österreichischen Bundesverfassung der Artikel 145, der besagt, dass der VfGH über Verletzungen des Völkerrechts entscheiden kann, also etwa über Kriegsverbrechen. Bloß wurde das dafür notwendige Gesetz nie beschlossen.
In den USA war Kelsen an den Überlegungen zur Gründung der Vereinten Nationen beteiligt und verfasste einen ersten juristischen Kommentar. Völkerrecht war für ihn ein Mittel zur Friedenssicherung. Denn nach seinem Verständnis müssten sich Staaten genauso wie Bürger an das geltende Recht halten – eine Überzeugung, die gerade heute in Donald Trumps Washington gehört werden sollte. Auch im 21. Jahrhundert bleiben Kelsen und sein Denken hochaktuell.
Ich danke Clemens Jabloner, ehemaliger Präsident des Verwaltungsgerichtshofs, ehemaliger Justizminister und Co-Geschäftsführer des Hans-Kelsen-Instituts, für seine Hilfe bei diesem Beitrag.