Christina Hainzl forscht an der Donau-Universität Krems über „Jüdisches Leben in Österreich“. Ein Gespräch über kulturelle Zugehörigkeit, tradierte Bilder und multiple Identitäten in Europa.
NU: Ihr Projekt widmet sich anhand längerer Interviews einer Bestandsaufnahme österreichisch-jüdischer Identität. Werden Sie vom Ergebnis überrascht sein?
Christina Hainzl: Zunächst muss man festhalten, dass die Studie noch bis Ende des Jahres läuft, also nicht abgeschlossen ist und aufgrund des Studiendesigns nicht repräsentativ sein kann. Sie verfolgt einen Storytelling-Ansatz, das bedeutet ein offenes Erzählen, wie Menschen „das Jüdische“ für sich erleben und wahrnehmen, welche Assoziationen hinzukommen. Wobei ich den Begriff „Gespräche“ bevorzuge. Es geht um jüdische Identität als persönliche Wahrnehmung und darum, aus diesen individuellen Sichtweisen neue Fragestellungen abzuleiten. Warum eignet sich diese Herangehensweise? Weil Gespräche im Unterschied zu Fragebögen mehr Rückschlüsse auf das Warum und Wie erlauben, oder darauf, welche Emotionen eine Rolle spielen. Dieser Ansatz wird häufig in der Feldforschung verwendet.
Wie viele Gespräche haben Sie bisher geführt?
Zwanzig bis dreißig, langfristig sind siebzig bis achtzig in einem längeren Zeitraum wünschenswert. Interessant ist dabei natürlich auch eine Langzeitperspektive, ob sich Meinungen ändern oder verstärken.
Was wäre ein solcher längerer Zeitraum?
Das hängt davon ab, wie sich die gesellschaftliche und politische Situation verändert. Die Frage, was das Jüdische denn ausmacht, und die damit fast immer assoziierte Problematik des Antisemitismus, verändern sich sehr schnell in Europa. Das kann man in den letzten Jahren beobachten. Viele Gesprächspartner bestätigen, dass sie sich in den letzten drei, vier Jahren unsicherer fühlen, dass sich die Situation verschlechtert. Es herrscht größere Angst vor Diskriminierung und vor Übergriffen. Gleichzeitig empfinden viele die österreichische Situation hinsichtlich jüdischen Lebens als sehr stabil und positiv.
Wien wird etwa als sehr lebenswerte Stadt empfunden, das ist eine Erkenntnis, die man jetzt schon bestätigen kann. Das „lebenswert“ bezieht sich dabei auf das kulturelle Angebot, die jüdischen Schulen und Vereine. In Gesprächen wird immer wieder berichtet, dass die Vielfalt jüdischer Kultur kaum sonst an einem Ort in Europa so gegeben ist. Zugleich gibt es aber eine spürbare Vorsicht, weil man natürlich weiß, welche Entwicklungen es in anderen europäischen Ländern, wie etwa Frankreich und Belgien, gibt.
Wie würden Sie jüdische Identität(en) in Österreich einschätzen? Kann sich die Identität des Einzelnen dadurch verändern?
Das hängt davon ab, welche Rolle das Jüdischsein für den Einzelnen bedeutet. Wenn jemand religiös ist, definiert sich natürlich auch Identität stark über Religion. Dann gibt es Personen, die ihr Jüdischsein in erster Linie über die Herkunft, über die Familie definieren. Und es gibt es jene, die zwar jüdische Wurzeln, aber keinen Bezug zum Judentum mehr haben, für die das Jüdischsein auch im Alltag keine Bedeutung hat. Diese Gruppe ist aber die kleinste. Der größte Teil meint: Mich beschäftigt meine Herkunft und Identität. Manche wissen auch nicht genau, welche Rolle es einnimmt – und etwas, das sehr häufig erwähnt wird: Eigentlich ist es mir auch lieber, dass es niemand weiß.
Es gibt eine große Gruppe von Personen, die interessiert sind, aber nicht möchten, dass jemand weiß, dass sie jüdischer Herkunft sind. In einem Gespräch wurde dies so beschrieben: Sie wollen auf keiner Liste in einem Verein oder der Kultusgemeinde sein. Das ist vollkommen legitim, sagt aber auch etwas aus. Nämlich, wie oben erwähnt, eine Vorsicht und leider zu oft auch ein Gefühl der Angst. In Summe sieht man eine sehr vielschichtige Situation. Einer der Gesprächspartner hat das so formuliert: „Die jüdische Identität ist ein mitgegebenes Bewusstsein, irgendwie nicht dazuzugehören, aber doch im Kern Teil von etwas anderem zu sein.“ Ich würde es so zusammenfassen: Jüdischsein ist in Österreich immer noch keine Selbstverständlichkeit. Weder für jene, die es sind, noch für die anderen. Jüdischsein bedeutet für beide Seiten noch immer einen sehr emotionalen Umgang.
Wie macht sich das im Alltag bemerkbar?
Sehr viele Gesprächspartner geben an, auf die Nahostpolitik angesprochen zu werden. In der breiten Wahrnehmung wird Jüdischsein unmittelbar auf die Politik Israels übertragen, selbst bei Juden, die noch nie in ihrem Leben in Israel waren. Hier fällt es vielen merklich schwer, sich von der politischen Situation abzugrenzen. In Österreich und in Deutschland trägt der Nahostkonflikt sehr viel zu dieser Thematik bei, viele bekommen wiederholt die Frage gestellt: „Was macht ihr denn da in Israel?“
Ist bei Ihren Gesprächspartnern eine Abgrenzung von Israel zu bemerken?
Es sind ja zumeist ÖsterreicherInnen jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens. Natürlich gibt es einen sehr starken Bezug zu Israel, aber man hat ja mit der Politik des Landes nicht unmittelbar zu tun.
Spielt die Erfahrung von Ausgrenzung dabei eine Rolle?
Die Erfahrung der Ausgrenzung bewirkt ein Nachdenken über die eigene Identität. Antisemitische Diskriminierung und Übergriffe erzeugen ein Bewusstsein davon, welche Rolle man in der Gesellschaft einnimmt – oder einnehmen muss. Diese Erfahrung von Antisemitismus hat eigentlich jeder gemacht, egal welchen Alters – wenn nicht direkt, dann über Freunde und Bekannte. Sie ist Teil des Bewusstseins.
Der Begriff Antisemitismus findet sich auch in der Beschreibung Ihrer Studie am Anfang.
Jüdische Identität und Antisemitismus sind zwei Begriffe, die eigentlich nicht zusammenhängen, es ist aber fast ausnahmslos Thema. Das hat sich im Laufe der Gespräche gezeigt. Beinahe jeder Teilnehmer kommt früher oder später auf antisemitische Erfahrungen zu sprechen und dass es etwas mit einem macht.
Viele jüdische Kinder, die nicht in einem religiösen Umfeld aufwachsen, haben erst beim Schuleintritt das Gefühl, „anders“ zu sein. Plötzlich sind sie beim Religionsunterricht nicht mehr dabei.
Das hängt stark davon ab, was man von zu Hause mitbekommen hat. In Gesprächen zeigt sich, dass Symbole oder Gegenstände manchmal versteckt werden. Ein Gesprächspartner sagte, ihm wurde als Kind von der Mutter stets gesagt, er solle das Kettchen mit dem Davidstern immer unsichtbar unter dem Pullover tragen. Das war zwar vor vielen Jahren, aber das Gefühl des Anderssein wird bereits mit solchen Alltäglichkeiten verstärkt. Jüdische Identitätsbildung ist, wie auch die Gespräche belegen, maßgeblich vom Elternhaus und von der Familie beeinflusst.
Aber die jüdische ist nur eine von vielen Identitäten, die wir alle besitzen.
Inwieweit jüdische Identität eine Rolle spielt, ist individuell sehr verschieden. Jeder Mensch hat viele Bezugspunkte. Ziel der Studie ist es unter anderem, aktuelle Sichtweisen und ein Bewusstsein für diese Vielfalt zu erfassen. Das ist letztendlich auch Frage und Aufgabe politischer und gesellschaftlicher Bildung. Ich habe mehrere Jahre ein Masterprogramm in Politischer Bildung geleitet, und LehrerInnen haben immer wieder gesagt, dass sie gerne mehr über aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen unterrichten würden. Dazu muss man aber wissen, welche Entwicklungen und Probleme das sind. Die Vorurteilsthematik etwa hat sich hier in den letzten Jahren wieder verstärkt. Um ein Beispiel zu nennen: Viele Gesprächspartner erwähnten, dass zahlreiche Menschen meinen, keine jüdischen Mitbürger zu kennen – und zwar deshalb, weil sie es gar nicht wissen. Viele haben überhaupt keine Vorstellung von heutigem jüdischen Leben. Da herrscht eine Mischung von tradierten Bildern und Wahrnehmung von antisemitischen Übergriffen, die Vorstellung von jüdischem Leben ist ganz stark von der Schoah und der Erinnerungsarbeit geprägt, die zwar absolut wichtig und notwendig ist, doch es fehlen die Bilder des Hier und Heute.
Stellt Identität nicht den Kern meiner Persönlichkeit dar?
Es gibt wohl eine Grundidentität, die stark von der Familie geprägt ist und immer Teil von einem bleibt, aber wenn ich mich als Mensch weiterentwickle, verändern sich dadurch auch meine verschiedenen persönlichen Bezugspunkte.
Liegt eine Schwierigkeit nicht auch darin, dass das Judentum und die Strömungen der jüdischen Lehre besonders heterogen sind?
Es wird ja auch intern heftig darüber diskutiert, was „jüdisch“ eigentlich bedeutet. Manche erleben Community-Diskussionen als mühsam, andere als gar nicht so schlimm. Doch das hat wieder damit zu tun, in welchem Umfeld man sich selbst bewegt und wo man sich verortet. Von vielen Gesprächspartnern angesprochen wird aber auch die Thematik der Mischehe. Also wie stark beeinflusst ein nichtjüdischer Partner meine jüdische Identität.
Berücksichtigt die Studie auch die Situation in den Bundesländern?
Außerhalb Wiens ist es schwieriger, Gesprächspartner zu finden, weil weniger Personen zur Verfügung stehen. Aber ja, es gibt einige Gespräche in ganz Österreich.
Wie gehen Sie bei der Auswahl Ihrer Gesprächspartner vor?
Das Ziel ist ein möglichst breites Spektrum, wobei der Frauenanteil im Moment noch geringer ist. Man muss natürlich strukturieren, zum Beispiel danach, ob jemand in einer jüdischen Organisation integriert ist, denn hier wird oft die Sichtweise der Gruppe mit eingebracht. Die Gespräche müssen gern und freiwillig geführt werden, und es werden alle anonymisiert.
Worin liegen die Schwierigkeiten, sich über seine jüdische Herkunft zu definieren?
Dafür gibt es viele mögliche Gründe: die Angst oder zumindest Zurückhaltung, mit jüdischer Herkunft ein Vorurteil hervorzurufen, und die Schwierigkeit, dass jüdische Identität eben nicht national oder regional definiert werden kann. Man definiert sich in Europa noch immer sehr stark national oder regional. Zum Beispiel fällt es einem wahrscheinlich leichter zu sagen, ich bin ÖsterreicherIn, denn es sagt ja eigentlich nur eine örtliche Bestimmung aus. Eine Identität, die sich nicht örtlich definiert, ist immer ungleich schwieriger darzustellen.
Was also ist jüdische Identität?
Das wüsste ich auch gerne. Aber im Ernst, ich denke, die Antwort ist bei jeder Identitätsfrage sehr schwierig und kann immer nur eine Annäherung darstellen. Es ist auch immer eine Frage, aus welcher Perspektive ich es betrachte. Es wäre ja auch bedenklich, wenn Identität komplett erfassbar wäre. Identität kann sich meiner Ansicht nach auch verändern, weil sie stark von der jeweiligen Lebenssituation abhängt.