Karoline Edtstadler, Bundesministerin für EU und Verfassung, im Gespräch über jüdisch-christliches Kulturerbe, antisemitische Corona-Proteste und zeitgenössisches jüdisches Kulturschaffen.
Von Michael J. Reinprecht
Der Kampf gegen Antisemitismus sei kein Sprint, sondern ein Marathon, meinte Karoline Edtstadler vor wenigen Wochen während ihres Israel-Besuches. Im Rahmen dieser Reise traf sie auch mit Israels Staatspräsident, Isaac Herzog, zusammen.
NU: Im Jahr 2003 scheiterte die EVP-Fraktion im EU-Parlament mit dem Antrag auf Aufnahme der christlich-jüdischen Wurzeln in die Präambel des Verfassungstextes. Im Vertrag von Lissabon ist heute vom „kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas“ die Rede. Aber ist nicht das christlich-jüdische Erbe Europas eine Tatsache?
Edtstadler: Das christlich-jüdische Erbe Europas ist definitiv eine Tatsache. Die Bewahrung und die Pflege dieses Erbes sind mir persönlich ein Anliegen, auch in meiner Arbeit als österreichische Bundesministerin. Das christlich-jüdische Erbe begründet unsere Kultur und die Art und Weise, wie wir zusammenleben – in Österreich und in Europa. Eine gesetzliche Verankerung ist die Basis für ein prosperierendes christlich-jüdisches Leben in Österreich. Zugleich ist es wichtig, dass es nicht nur auf dem Papier steht, sondern jeder und jede Einzelne von uns das auch lebt.
Von islamischer Seite gibt es dazu Kritik, gerade im Lichte harmonischen Miteinanders der drei monotheistischen Religionen. Wie ist die Beziehung zum Islam, wird ein Dialog geführt?
Der Islam ist seit 1912 in Österreich eine anerkannte Religion. Das ist natürlich eine Grundvoraussetzung, um einen guten Dialog und ein gutes Miteinander zu haben. Ich bin eine Verfechterin von Inklusion, des Hineinnehmens, der Verhinderung des Ausgrenzens und des Gegeneinander-Ausspielens. Europa ist und war über die Jahrhunderte christlich-jüdisch geprägt, doch auch der Islam spielt eine zunehmende Rolle und leistet seinen Beitrag zu unserer Kultur. In erster Linie geht es darum, negative Vorurteile abzubauen. In Österreich bekennen sich etwa 600.000 bis 700.000 Menschen zum Islam. Und der Fokus, den ich in meiner täglichen Arbeit auf den Kampf gegen den Antisemitismus und auf die Förderung jüdischer Kultur und jüdischen Lebens in Österreich lege, bedeutet nicht, dass ich die andere Seite nicht auch sehe.
Sowohl eine vom Nationalrat in Auftrag gegebene Studie als auch die von der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) regelmäßig veröffentlichten Zahlen konstatieren zunehmenden Antisemitismus. Gleichzeitig ist die Bundesregierung seit einigen Jahren im Kampf gegen den Antisemitismus besonders engagiert.
Die Zunahme der antisemitischen Vorfälle in Österreich, aber auch in Europa ist besorgniserregend. Man muss festhalten, dass die Pandemie in den letzten beiden Jahren leider wesentlich dazu beigetragen hat – und zwar sowohl in der realen als auch vor allem in der digitalen Welt. Ich erinnere mich gut an die ersten Corona-Demonstrationen, wo Antisemitismus und Holocaustverharmlosung offen auf der Straße vor sich hergetragen wurden: Mit Schildern „Impfen macht frei“, dem Tragen des Davidsternes als „Judenstern“ oder der Vergleich des Covid-Impfstoffes mit Zyklon B. Es ist erschreckend, dass so etwas heute noch passiert, dagegen müssen wir ankämpfen. Ich möchte aber trotzdem sagen, dass Zahlen nicht alles abbilden können. Die Entwicklungen allein an Zahlen festzumachen, halte ich für zu wenig.
Warum?
Weil ich – und ich bin jetzt schon viele Jahre in diesem Bereich tätig – sehe, dass die Sensibilität gegenüber antisemitischen Vorfällen ebenfalls gestiegen ist. Während früher Vorfälle oft nur achselzuckend zur Kenntnis genommen wurden, wenn beispielsweise Personen, die eine Kippa trugen, beschimpft oder gar geschlagen wurden, neigt man heute viel eher dazu, das tatsächlich anzuzeigen – polizeilich, strafgerichtlich oder zumindest an die Meldestelle der IKG.
Wie schätzen Sie diese Statistik ein?
Damit haben wir einen besseren Überblick über die Anzahl und die Art der Vorfälle. Seien es physische Attacken, Vorfälle im Internet, sei es Stalking, Mobbing bis hin zu Wiederbetätigungsfällen. Es ist ein dramatischer Befund. Das möchte ich in aller Deutlichkeit sagen. Man muss alles tun, um die Zahlen zu senken. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass sich Erfolg nicht allein an der Statistik messen lässt.
Sie sprechen hier besonders die Verschwörungstheorien an? Selbstverständlich. Diese sind furchtbar, wie beispielsweise absurdeste Geschichten und Cartoons darüber, wo und wie sich das Coronavirus besser und schneller vermehrt. Das hat mich stark an meine Besuche in Yad Vashem erinnert, wo ja dokumentiert wird, wie sich nationalsozialistische Propaganda hinter vermeintlich harmlosem Humor und in Karikaturen versteckte und so den Weg in die Gesellschaftsfähigkeit gefunden hat. Und ähnlich ist es losgegangen in der Pandemie. Das war für mich ein Alarmzeichen: In welcher Gesellschaft leben wir, in welche Richtung gehen wir und was können wir dieser Entwicklung möglichst effektiv entgegensetzen.
Wie passt in dieses Bild der Fall jenes österreichischen Unteroffiziers in selbst gebastelter SS-Uniform, der mit dem Hitlergruß seine Kameraden schockierte, aber mit einem milden Urteil davonkam und nicht einmal vom Dienst suspendiert wurde?
Das ist untragbar und muss mit einer Nulltoleranzpolitik verfolgt werden. Ich bin hier sowohl mit der Justizministerin als auch mit der Verteidigungsministerin einig, dass diese Nulltoleranzpolitik auch gelebt werden muss. Dieser Fall hat aufzeigt, dass es notwendig ist, im Gesetz nachzuschärfen. Das einer Disziplinarkommission zu überlassen, reicht eben nicht. Es muss rechtlich klargestellt sein, dass jemand, der wegen Wiederbetätigung rechtskräftig verurteilt ist, nichts im Staatsdienst verloren hat, sei es im Bundesheer, im Schuldienst, in einem Ministerium oder wo auch immer. Punkt. Diesen gesetzlichen Zustand werden wir herstellen.
Wie können Vorfälle wie dieser verhindert werden? Dieser Fall hat auf dramatische Weise gezeigt, dass es tatsächlich Personen in unserer Gesellschaft gibt, die solche Uniformen basteln, sich hinstellen, den Hitlergruß zeigen und sich damit rühmen. Daher finde ich es absolut richtig, dass die Verteidigungsministerin zusätzlich eine Kommission eingerichtet hat. Wir nehmen den Fall in der Bundesregierung sehr ernst und werden in Zukunft harte Konsequenzen gesetzlich verankern. Wer weiß, dass seinem Verhalten keine schwerwiegenden Konsequenzen folgen, sieht wenig Grund, es nicht zu tun.
Die besondere Verantwortung Österreichs gegenüber der jüdischen Bevölkerung spiegelt sich auch in der Förderung des jüdischen Lebens und seiner kulturellen Entfaltung wider. Was geschieht konkret, um jüdische Kultur sichtbarer zu machen?
Wir haben zunächst einmal das österreichisch-jüdische Kulturfördergesetz beschlossen, mit einer Förderung von vier Millionen Euro pro Jahr für die Israelitische Religionsgesellschaft (IRG). Das war ein Meilenstein. Konkret geht es darum, diese Mittel für die Förderung des Austausches mit anderen Religionsgemeinschaften, für die Förderung kultureller Einrichtungen und Veranstaltungen und für die Verständigung in der Gesellschaft zu verwenden. Es geht natürlich auch um die Sicherheit, aber der Hauptteil der Förderungen betrifft das jüdische Kulturerbe. Ich bin fünf Jahre in der Spitzenpolitik, man kann in so einer Position schon vieles bewegen, indem man Dinge anspricht und sichtbar macht.
Zum Beispiel?
Besonders stolz bin ich auf die Konzertreihe Klangwelten im Bundeskanzleramt, wo wir jüdische Kunst und Kultur vor den Vorhang holen und mit einer ganz gezielten Einladungspolitik, nämlich einer Mischung aus Journalisten und Journalistinnen, Vertretern von NGOs und anderen Multiplikatoren sowie einer Übertragung im ORF zeigen, dass jüdisches Leben selbstverständlich in der Mitte unserer Gesellschaft dazugehört. Ich glaube, man kann nur so darauf aufmerksam machen. Das ist etwas, das nie abgeschlossen ist, sondern wo es immer wieder von neuem die Kreativität braucht.
Wie werden die Mittel aus dem österreichisch-jüdischen Kulturfördergesetz verteilt? Und können Sie die Förderungen in einem ersten Schritt evaluieren?
Die Israelitische Religionsgesellschaft (IRG) legt dem BKA jedes Jahr einen Bericht über die Verwendung der Gelder vor. Außerdem stehen wir mit der IRG regelmäßig in Kontakt und evaluieren die Mittelvergabe. Was wir dabei sehen, ist, dass in den Jahren 2020 und 2021 vor allem der Schutz von jüdischen Einrichtungen große Priorität hatte – der Anschlag in der Wiener Innenstadt und die Covid-Pandemie haben dies notwendig gemacht. Die Verteilung der Mittel war dadurch bestimmt und obliegt ausschließlich der IRG.
Sie haben vorhin Ihre mehrmaligen Besuche in Yad Vashem erwähnt. Haben Sie in Israel auch Mitglieder der israelischen Regierung getroffen und sich über die österreichischen Bemühungen im Kampf gegen den Antisemitismus und zur Bewahrung des jüdischen Erbes, jüdischen Lebens und jüdischer Kultur ausgetauscht?
Es war mir eine besondere Ehre, im September 2022 Israels Staatspräsidenten Isaac Herzog zu treffen. Er sieht unseren Einsatz im Kampf gegen Antisemitismus mit großer Zustimmung und bekundete sein Interesse, Österreich besuchen zu wollen. Die vielen hochrangigen Besuche in den letzten Monaten sind Zeugnis der guten bilateralen Beziehung zwischen Israel und Österreich. Mich freut es besonders, dass unsere Arbeit im Kampf gegen Antisemitismus und für ein prosperierendes jüdisches Leben so viel Anklang in Israel findet. Österreich ist mit seiner Nationalen Strategie im Kampf gegen Antisemitismus Vorreiter in Europa.