Das Themenfeld Judentum und Adel ist nicht nur ein Fall für rückblickende Betrachtungen, sondern bietet eine Reihe von Anknüpfungspunkten, die bis in die Gegenwart reichen.
VON KAI DREWES
Man könnte denken, der Begründer des modernen Zionismus um 1900 und Vordenker eines jüdischen Staates, welcher besonders fortschrittlich sein sollte, müsse eingefleischter Republikaner gewesen sein und kritisch gegenüber allem Feudalem. Weit gefehlt, Theodor Herzl war, ganz Kind seiner Zeit, überzeugter Monarchist und hätte anfangs gern einen Baron Rothschild als erstes Staatsoberhaupt gesehen. Auch sonst hatte Herzl ein Faible für Aristokratisches – wäre es nach ihm gegangen, hätte es auch im Judenstaat ein Adelsamt gegeben. Diese Einrichtung hätte neue Adelstitel verliehen und entschieden, welche einwandernden jüdischen Familien, die schon in einem europäischen Land geadelt waren, ihren Titel behalten hätten dürfen. Insgesamt werde er für die jüdische Sache „durch Adelsverleihung grosse persönliche Opfer geleistet bekommen“, so Herzl hoffnungsvoll zu Beginn einer Tagebuchpassage zu dieser Frage vom Juni 1895 – geschrieben in der Hauptstadt des republikanischen Frankreichs, unter dem Eindruck der Dreyfus-Affäre.
Im Abstand von 125 Jahren scheinen solche Überlegungen einer längst vergangenen Zeit anzugehören, als fast alle Staaten Europas noch Monarchien waren und der Adel mehr oder weniger große Privilegien genoss. Doch das Themenfeld Judentum und Adel ist bei näherem Hinsehen nicht nur ein Fall für rückblickende Betrachtungen, sondern bietet eine Reihe von Anknüpfungspunkten, die bis in die Jetztzeit reichen.
Nicht nur, dass auf die von Österreich vor 200 Jahren baronisierten, hier seit der NS-Zeit nicht mehr ansässigen Rothschilds weiterhin alles Mögliche projiziert wird; beim Thema jüdischer Adel geht es nicht zuletzt immer wieder um die Frage der Anerkennung einer Minderheit, symbolisiert im Grad der Zugänglichkeit zu hohen Auszeichnungen und individuell verdichtet.
Nun waren einst (und sind in Großbritannien noch heute) Adelstitel die höchste Ehrung und boten Anlass zum Träumen, auch für Juden in der Habsburgermonarchie. Joseph Roth greift dies unter anderem in seinem Radetzkymarsch auf: Der jüdische Hutfabrikant Knopfmacher will den katholischen Leutnant von Trotta als Schwiegersohn gewinnen, hofft auf den Titel Kommerzialrat und letztlich, nach genügend Spenden, auf einen österreichischen oder wahlweise ungarischen Adelstitel.
Wie Roth war selbstverständlich auch Herzl bewusst, dass es insbesondere in seinen beiden Heimatländern Österreich und Ungarn mehrere hundert Familien jüdischen Glaubens, nicht bloß jüdischer Herkunft, gab, die geadelt wurden, von denen freilich viele – aber auch bei Weitem nicht alle – früher oder später doch zum Christentum übertraten. Von der gemäß Konfessionszugehörigkeit jüdischen Bevölkerung in der Habsburgermonarchie am Vorabend des Ersten Weltkriegs – etwas über zwei Millionen Menschen – wird höchstens ein Prozent einen Adelstitel getragen haben: vermutlich mehr als in jedem anderen Land Europas, allerdings adelte der Kaiser und König in Wien insgesamt ganz besonders fleißig. Adelstitel, ebenso wie Verdienstorden, Honorarkonsulate und andere staatlich-monarchische Auszeichnungen waren um 1900 nach wie vor und überall heiß begehrt. Juden (und das heißt hier meist: jüdische Großbürger) machten dabei keine Ausnahme, und wenn sich einige von ihnen Rittergüter oder Schlösser zulegten, sollte dies nicht überraschen. Gehässige Kommentare im Hinblick auf die Empfänglichkeit für Adelstitel usw. bezogen sich jedoch besonders häufig auf Juden.
Bemühungen prominenter, vermögender Juden um adelige oder adelsähnliche Würden sind schon früh festzustellen. 1789 war es dann so weit, dass mit Israel Hönig (Edler von Hönigsberg) erstmals ein jüdischer Großhändler in Wien geadelt wurde, ohne zuvor getauft worden zu sein. Auch wenn jetzt einzelnen finanzkräftigen Bankiers und Unternehmern von staatlicher Seite der Wunsch nach einem schmucken Titel erfüllt wurde (in vielen Staaten noch lange undenkbar), ein freundliches Signal an das österreichische Judentum war damit nicht beabsichtigt. Im Gegenteil ergab sich in Österreich damals die seltsame Konstellation, dass Juden prinzipiell adelig werden konnten, aber bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts noch keine Bürgerrechte genossen.
Im Laufe der Jahre wurde eine ganze Reihe jüdischer Oberschichtfamilien in Wien nobilitiert. Personen in anderen Metropolen der Monarchie wie Prag, Triest und später Budapest, aber auch im Ausland, kamen dazu, zuletzt waren dann sehr viele prominente Industriellen- und Bankiersfamilien in beiden Reichshälften – Juden wie Nichtjuden – zumindest teilweise adelig. Schließlich wurden beispielsweise auch einige Offiziere und Gelehrte jüdischen Glaubens und sogar der bekannte Hofschauspieler Adolf (seit 1881 von) Sonnenthal geadelt. Unter den Wiener „Ringstraßenbaronen“ der Gründerzeit waren viele geadelte jüdische Familien wie die Ephrussis, Gutmanns, Königswarters, Scheys und Todescos mit ihren prächtigen Häusern, transnationalen Verbindungen und wechselhaften Schicksalen; in dem von Gustav (seit 1866 Ritter von) Epstein errichteten Ringstraßenpalais gibt es heute beispielhaft eine Ausstellung über die Geschichte von Familie und Gebäude. Unbedingt sehenswert sind auch die prächtigen, wappengeschmückten Grabmäler jüdischer Adelsfamilien etwa auf dem Währinger Friedhof und Zentralfriedhof. Sie zeigen im Kontrast zur Masse der anderen Gräber sehr deutlich, welche sozialen Unterschiede es auch innerhalb der riesigen jüdischen Gemeinde Wiens gab.
Denn stets bestand eine deutliche Grenze zwischen dem zahlreichen niedrigen Adel, dem in Österreich auch praktisch alle Freiherren angehörten, und dem hohen Adel vom Grafenstand aufwärts, der auf Abstand hielt und für Juden unerreichbar blieb. Als die Wiener Rothschilds 1887 die exklusive „Hoffähigkeit“ erlangten, war dies eine außerordentliche Besonderheit und Sensation. Damals war die gesetzliche Gleichstellung der Juden bereits erreicht, aber es war eine höchst widersprüchliche Zeit, die üble Gehässigkeiten wie den antisemitischen Adelsalmanach „Semi-Gotha“ hervorbrachte, ein kurz vor dem Ersten Weltkrieg veröffentlichtes deutsch-österreichisches Gemeinschaftswerk völkischer Publizisten. Ambivalent auch die Haltung von Kaiser und Regierung gegenüber Juden mit und ohne Adelswunsch, aber doch freundlicher als in Preußen, wo Juden nicht einmal Offiziere werden durften. Um 1900 wurden sogar gezielt einige jüdische Großunternehmer etwa in Galizien und Ungarn geadelt, die zugleich Vorsitzende ihrer jüdischen Gemeinden und damit gesuchte Partner der Regierungen waren, zumal als Verbündete im Nationalitätenstreit.
Angesichts so vieler geadelter jüdischer Familien in Österreich lassen sich deren Geschicke nicht gleichsetzen – es kam so ziemlich alles vor, was irgend vorstellbar ist. Einzelne jüdische Adelige versuchten ihren wirtschaftlichen Erfolg und ihre Kontakte zugunsten der jüdischen Gemeinschaft einzusetzen. In der Tradition der frühneuzeitlichen Fürsprache („shtadlanut“) seitens der „Hofjuden“ für ihre Glaubensgenossen setzten sich etwa in Wien und Budapest noch um 1900 einzelne Angehörige großbürgerlich-neuadeliger jüdischer Familien als Leitungsmitglieder von Kultusgemeinden und jüdischen Organisationen – teils auch als Parlamentsabgeordnete – aktiv für jüdische Belange ein. Allerdings gab es auch oft ein Herauswachsen geadelter jüdischer Familien aus dem Judentum, weil die Nachkommen christlich wurden oder kaum noch einen Bezug zum Judentum hatten. Die baronisierten Bankiersfamilien Arnstein und Eskeles etwa traten schon Anfang des 19. Jahrhunderts überwiegend über. Andererseits gingen aus einigen Adelsfamilien auch noch im 20. Jahrhundert bekannte jüdische Persönlichkeiten hervor wie die Döblinger Mäzenin Franziska von Wertheimstein oder der Kultursoziologe Erich von Kahler.
Ein Beispiel für den möglichen Gang der Dinge, vielleicht besonders erhellend: Viele sahen und sehen Hugo von Hofmannsthal als irgendwie jüdisch an, dabei hatte er nur einen einzigen Großelternteil jüdischer Herkunft und sah sich als katholischen Edelmann. Der namensgebende Urgroßvater des Dichters und Adelserwerber hingegen, Isaak Löw Hofmann (seit 1835 Edler von Hofmannsthal), war erfolgreicher Großunternehmer und wichtiger jüdischer Philanthrop, lange Jahre auch Vorsteher der Wiener Gemeinde gewesen. Sein Adelswappen zeigte unter anderem die mosaischen Gesetzestafeln mit hebräischer Inschrift.
Viel gäbe es zu berichten über jüdische Adelige und, breiter, über Judentum und Adel – seltsam, dass die Jüdischen Museen in Wien, Berlin oder Frankfurt sich des Themas nicht längst angenommen haben. Was die Nachkommen geadelter jüdischer Familien betrifft, dürfte es in Österreich heute nur noch sehr wenige Menschen geben, die jüdischen Glaubens sind und unter anderen Umständen einen ererbten Adelstitel führen dürften. Denn in der Tschechoslowakei und Österreich wurden sofort nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg alle Adelstitel in eigentümlicher Konsequenz abgeschafft.
Ironischerweise lebt aber ausgerechnet im nach Herzl realisierten jüdischen Staat seit einem Jahrhundert eine Familie mit österreichischem Adelstitel. Der bekannte Publizist und revisionistische Zionist Wolfgang (alias Binyamin Ze’ev) von Weisl, dessen Vater noch im September 1918 geadelt worden war, ging wenige Jahre darauf nach Palästina, behielt aber seinen deutschen Familiennamen samt Adelsprädikat bei. Von seinen israelischen Nachkommen ist die Enkelin Niva von Weisl heute als Managerin in Indien tätig, engagiert sich für die Erinnerung an ihre interessante Familie und ist so zur Brückenbauerin zwischen Israel und Österreich geworden.