Flucht vor der Inquisition und Vertreibung brachten Ende des 15. Jahrhunderts Juden aus Spanien und Portugal bis in die Karibik, wo manche von ihnen – sehr erfolgreich – als Gesetzlose lebten. Jüdische Piraten attackierten und plünderten die Flotte der spanischen Könige mit Schiffen, die Namen wie „Prophet Samuel“, „Königin Esther“ und „König Salomon“ trugen.
VON PETER WEINBERGER
Als der englische Freibeuter William Jackson 1643 Jamaika eroberte, fand er, wie eine Eintragung in seinem Logbuch belegt, eine im Wesentlichen entvölkerte Insel vor, mit Ausnahme allerdings einiger Portugiesen „hebräischer Nation“, die ihre Hilfe anboten und versprachen zu zeigen, wo die Spanier das Gold verstecken. Von jenen sonderbaren Portugiesen leiten übrigens die heutigen Juden Jamaikas ihre Abstammung ab.
Verfolgung und Vertreibung auf der iberischen Halbinsel hatten dazu geführt, dass sich spanische Juden, die sich als portugiesische Neuchristen ausgaben, bereits ein bis zwei Jahrzehnte nach Kolumbus’ Entdeckungen in den die neu entstandenen, großen Städten Südamerikas niederließen. Darunter waren die Silberstadt Potosí in Bolivien oder das peruanische Lima, wo ein Bericht der Inquisition eine Vielzahl „protzsüchtiger Kryptojuden“ ausmachte. Aus all diesen Städten wurden sie jedoch schon sehr bald wieder vertrieben, vor allem auf Drängen neidischer Mitbewohner. Danach war die Geschichte der sephardischen Juden in Süd- und Mittelamerika – wie in allen anderen Teilen der von Spanien beherrschten Welt – eine Abfolge von Erpressungen, Gewalttaten, Autodafés und Flucht.
Port Royal
Die Spanier blieben allerdings nicht die Alleinherrscher der Meere. Auch Holland, England und Frankreich stellten den Anspruch auf neue Kolonien und waren bereit, diesen mit militärischen Mitteln durchzusetzen. So wurde auch Jamaika nach kurzer Herrschaft von William Jackson Mitte des 17. Jahrhunderts von der britischen Krone besetzt, die sich in Verträgen ganz offiziell mit den dort ansässigen Juden verbündete. Diese schlugen unter anderem vor, zum Schutz der Insel die diversen in der Karibik operierenden Piraten einzuladen, Port Royal als „Heimathafen“ und Stützpunkt zu benützen. Finanziert und ausgerüstet von jüdischen Kaufleuten, unternahmen in der Folge Freibeuter und Seeräuber aller Art Angriffe auf spanische Galeonen, die, mit Gold oder Silber beladen, in Richtung Mutterland in See stachen.
Vielfach hatten die Piratenschiffe bloß die rote Fahne gehisst. Das bedeutete: Es werden keine Gefangenen gemacht, es wird keine Überlebenden geben. Die Beute sammelte sich in Port Royal an, und bald hatte diese Stadt den zweifelhaften Ruf, das Schatzkästchen der Karibik zu sein. In Port Royal gab es eine Synagoge, sowie pro acht „Anwesende“ ein „Hotel“ und jeweils ein Bordell. Im Wesentlichen dauerten die Beutefahrten der Gesetzlosen bis 1670 an, bis Spanien in einem Friedensvertrag den Anspruch, Alleinbesitzer Westindiens und Südamerikas zu sein, aufgeben musste. Piraten und deren jüdische Finanziers hatten die Macht Spaniens und der Inquisition gebrochen: Eine späte Rache für die Vertreibung aus Sfard. Es war Spaniens Abschied als Weltmacht.
Don Samuel
Es gäbe viele Geschichten aus jener Zeit zu erzählen: Über „portugalisierte“ Nachfahren von Kolumbus, über ihren Anspruch auf die Insel Jamaika, über den „Fels Israels“, wie sich eine jüdische Siedlerkolonie in Bahía, im heutigen Brasilien, bezeichnete, über den politischen Einfluss, den Frankreich, ebenfalls in Zusammenarbeit mit sephardischen Juden, in Westindien ausübte. Noch heute wird ja auf einigen karibischen Inseln Französisch gesprochen, sie blieben Teil Frankreichs.
Aber die vielleicht aufregendste all dieser Geschichten ist die vom Piratenrabbiner Samuel Pallache. Samuel wuchs in Fez auf, wo er in der Mellah, dem jüdischen Ghetto, lebte und wie sein jüngerer Bruder Joseph religiöse Schulen besuchten, um die Tora und den Talmud zu studieren. Vielsprachigkeit war angesagt: Spanisch, Portugiesisch, Arabisch, Hebräisch … Rabbinische Vorfahren der beiden Brüder ließen sich bis ins 6. Jahrhundert zurückverfolgen. Samuel wurde Händler und tat sich auf dem internationalen Parkett um. Er verkaufte marokkanisches Bienenwachs (das für den Schiffsbau gebraucht wurde) und brachte Rubine und Smaragde als offizielle Gastgeschenke nach Holland. Sehr bald gelang es ihm, den spanischen Königshof gegen türkische, französische, holländische oder marokkanische Interessen (vertreten durch den Sultan von Tanger) auszuspielen – und bei Bedarf auch umgekehrt. Unter anderem besiegte er mit einer holländischen Flotte unter marokkanischer Flagge eine spanische Flotte.
In Amsterdam gründete er 1612 die erste jüdische Gemeinde in Holland, Neve Schalom, und wurde deren erster Präsident. Seine christlichen Nachbarn nannten ihn Don Samuel, seine Frau Reina (Königin), die Juden in seiner Gemeinde betitelten ihn dagegen als Rabbi. Er war bereits an die 70, als er seine Gemeinde informierte, dass er beabsichtige, eine Piratenmannschaft zu sammeln, um spanische Schiffe zu kapern. Das Schiff des Kämpferrabbis, wie ihn seine Crew nannte, segelte unter marokkanischer Flagge und hatte einen Phönix als Galionsfigur. Es war wohl ausgerüstet, und selbstverständlich gab es auch einen Koch für koscheres Essen. Überfälle auf ein portugiesisches Schiff und eine spanische Galeone brachten Zucker und Tierhäute als Beute, die er nach Amsterdam sandte. Bei der Rückreise aus der Karibik geriet sein Schiff jedoch in einen Sturm, und er musste in England anlanden.
Der spanische Botschafter dort wusste, wer da gestrandet war und verlangte, dass Samuel umgehend vor Gericht gestellt und danach gehängt werde. Das aber widersprach holländischen Absichten, und selbst die Machthaber von Marokko schalteten sich ein. Man hielt fest, dass Samuel Pallache einen gültigen „Kaperbrief“, also eine Art Lizenz für die Freibeuterei, habe, da sich beide Länder mit Spanien im Krieg befänden. Und da der englische König auch nicht gerade ein Freund Spaniens war, ließ er ihn in die Residenz des Londoner Bürgermeisters bringen, wo Samuel und der Bürgermeister für eine Weile sittsam miteinander dinierten. Letzten Endes wurde er freigelassen und nach Holland überstellt – denn die Spanier würden auch keine Unterschiede zwischen Juden und Engländern machen und beide gleichermaßen als Ketzer verbrennen, lautete die Begründung.
Selbst die letzten Monate seines Lebens verliefen noch aufregend: vermutlich (doch nie bewiesen) als Doppelagent für Spanien und das Sultanat Tanger. Als Pallache starb, schritten der holländische Fürst und der gesamte Magistrat der Stadt Amsterdam hinter seinem Sarg einher. Für die Jugendlichen in seiner Gemeinde war er ein Held, der ausgezogen war, um feindliche (spanische) Schiffe zu kapern, statt zu Hause die Tora zu studieren. Kein Wunder, dass er Vorbild für viele in seiner Gemeinde wurde, die ebenfalls ihr Glück als Freibeuter in der Karibik suchten und fanden. Das sephardische Amsterdam, das „Neue Jerusalem“, fungierte einige Jahre lang als Logistikzentrum für den Krieg gegen die Spanier – und damit gegen die Inquisition.
Goldmine Kolumbus´
Diese Situation in Verbindung mit den englischen, holländischen und französischen Interessen in Übersee bildete die Grundlage für das Schicksal vieler jüdischer Piraten, wie die mit Amsterdam in Verbindung stehenden „Zion-Krieger“ oder Abraham Cohen, der vorgab, Kolumbus’ Goldmine auf Jamaika gefunden zu haben. Auch der teilweise Auszug der Juden von Jamaika und ihre Ansiedlung in Neu-Amsterdam, dem heutigen New York, steht in diesem Zusammenhang – dies zu einer Zeit, als Peter Stuyvesant, ein militanter Antisemit, als Gouverneur über die Stadt herrschte, als es anstelle der Canal Street tatsächlich einen Kanal gab und man dort, wo sich heute die Pearl Street befindet, am Strand Perlmuscheln entdecken konnte.
Die jüdische Geschichte der Karibik ist spannend wie ein Kriminalroman, allerdings sind die darin vorkommenden Personen nicht frei erfunden, es hat es sie wirklich gegeben: Desperados, Piraten, Freibeuter, Bukaniere, auf der Flucht vor der Inquisition (über Amsterdam) nach Westindien gespült.
Die angebliche Goldmine Kolumbus’, berühmt und sagenumwoben wie der Schatz der Templer, wurde übrigens nie gefunden – genauso, wie Vásquez de Coronado, in dessen Heer sich jüdische Desperados befanden, auf seinen Eroberungszügen nie die Goldene Stadt entdeckt hatte.
Mercedes García-Arenal, Gerard Wiegers
A Man of Three Worlds: Samuel Pallache, a Moroccan Jew in Catholic and Protestant Europe
Johns Hopkins University Press, 2010
Edward Kritzler
Jewish Pirates of the Caribbean. How a generation of swashbuckling Jews carved out an empire in the New World in their quest for treasure, religious freedom – and Revenge First Anchor
Books Edition, 2009