Von Martin Engelberg
In den vergangenen 15 Jahren waren die Erinnerung an die Shoah, der Kampf um die Restitution beziehungsweise Entschädigung von geraubtem Gut und das Warnen vor immer neuem Antisemitismus die überragenden politischen Themen der jüdischen Gemeinde. So sehr diese Beschäftigung auch tatsächlich erforderlich und überfällig war – diese fast ausschließliche Fokussierung auf diesen Themenkreis war schon bisher problematisch.
Die sich in den vergangenen Jahren ständig weiter ausbreitende Integrationsdebatte in Europa stellt die bisherige Agenda „Shoah–Restitution– Antisemitismus“ jetzt zunehmend in den Schatten. Wir sollten uns nicht nur gezwungen sehen, in dieser Diskussion Stellung zu beziehen. Vielmehr ergibt sich dadurch die ausgezeichnete Gelegenheit, die Position der Juden in den europäischen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts neu zu definieren, und auch nach innen an einer Neuausrichtung, ja an einer Wiederbelebung des Jüdisch-Seins zu arbeiten.
Nicht wenige in der jüdischen Gemeinde warnen jetzt, wie sehr die Emotionen in den Diskussionen um die Probleme mit muslimischen Einwanderern dem Antisemitismus ähnelten; manche vergleichen die heutige Stimmung in Europa mit jener der 20er- und 30er-Jahre des vorigen Jahrhunderts. Natürlich gibt es gewisse Ähnlichkeiten und man kann argumentieren: Wieder werden andere Kulturen nicht als Bereicherung, sondern als Bedrohung angesehen, wieder entwickeln viele Menschen Neid und Angst um ihren Besitzstand. Aber nicht alles, was hinkt, ist ein Vergleich. Wer behauptet, nur die fremdenfeindlichen, antisemitischen Österreicher seien schuld an den Integrationsproblemen der muslimischen Einwanderer, und wer meint, dass alle Probleme nur einer verfehlten Sozial-, Bildungs- und Integrationspolitik Österreichs zuzuschreiben sind, liegt einfach falsch.
Als vor einigen Jahren die Unruhen in den Vorstädten von Paris tobten und wir in einer Gesprächsrunde über Fremdenfeindlichkeit diskutierten, saß in dieser Runde auch eine kanadische Diplomatin, deren Eltern – Juden aus Marokko – in den 50er-Jahren nach Frankreich ausgewandert waren. Sie gab mit leiser Stimme zu bedenken: „Meine Eltern waren auch aus Nordafrika nach Frankreich emigriert. Damals waren die Franzosen ganz sicher auch nicht weniger fremdenfeindlich und abweisend. Meine Familie kam völlig mittellos nach Frankreich. Es war sehr schwer für meine Eltern, Arbeit zu finden. Aber sie haben hart gearbeitet und uns dabei nicht auf der Straße aufwachsen lassen. Sie haben alles getan, um uns Kindern eine gute Erziehung und Ausbildung zu geben. Und so ist ein Bruder von mir heute ein Arzt, der andere ein Rechtsanwalt und ich bin im diplomatischen Dienst.“
Es prallen mit den muslimischen Einwanderern in den Demokratien und Wohlfahrtsstaaten Europas tatsächlich unterschiedliche Welten aufeinander und dabei stehen wir Juden weder in der Mitte noch abseits. Es ist zulässig, von einem judeo-christlichem Erbe, einer gemeinsamen zivilisatorischen Entwicklung, also einer gemeinsamen jüdisch-christlichen Wertegemeinschaft zu sprechen, welche die westliche Welt prägen. Wir sprechen hier von Gesellschaften und Religionen, die das Zeitalter der Aufklärung und der Trennung von Staat und Religion durchgemacht und verinnerlicht haben.
Wir Juden sollten uns daher nicht scheuen, klar Position zu beziehen. Gleichzeitig sollten wir beweisen, dass auf Basis eines gemeinsamen Wertesystems durchaus unterschiedliche Kulturen gedeihen können. Und wir sollten unsere jüdische Identität, unsere Werte und Traditionen daher dementsprechend fördern und pflegen.
Damit würde sich das Wirken von uns Juden nicht nur auf die Mithilfe bei der Abwehr von rechtspopulistischen und xenophoben Tendenzen in Europa beschränken, die es ja zweifellos gibt. Wir könnten damit auch den Weg zu einer ganz neuen Orientierung und Standortbestimmung der jüdischen Gemeinschaften im Europa des 21. Jahrhunderts ebnen.