Juden verstecken war auch Widerstand

NU sucht jene stille Helden, die während der Nazizeit Juden das Leben retteten. Als Auftakt besuchte NU-Autor Michael Kerbler Inge Deutschkron in Berlin. Dank ihres ehemaligen Chefs überlebte nicht nur sie, sondern auch viele andere.
Von Michael Kerbler

Ein paar Mal könnte man stolpern auf dem Weg von der S-Bahn-Station Hackescher Markt hinüber zur Rosenthaler Straße 39, zum Museum „Blindenwerkstatt Otto Weidt“. Kleine quadratische Messingplatten sind der Grund dafür, meist sind sie vor Hauseingängen auf dem Pflaster angebracht. Auf den blanken Metallplatten sind Namen eingraviert. Namen von Frauen und Männern, die hier einmal gewohnt haben. Und die verschleppt wurden. Ins KZ, nach Auschwitz oder Buchenwald.

An die 160.000 Juden leben Anfang des Jahres 1933 in Berlin. Bis Kriegsbeginn schaffen es 80.000 die Stadt und Nazideutschland zu verlassen, aber 55.000 Berliner Kinder, Frauen und Männer werden in Konzentrationslagern ermordet. Mehr als 7.000 Jüdinnen und Juden tauchen ab – in den Untergrund von Berlin. Viele von ihnen sind verraten oder bei Ausweiskontrollen auf der Straße festgenommen worden. Andere haben die psychische Belastung, sich dauernd verbergen zu müssen, nicht mehr ertragen und haben sich der Polizei gestellt. Unbekannt ist die Zahl derer, die an Krankheiten gestorben oder bei Luftangriffen ums Leben gekommen sind. Immerhin: 1.700 dieser 7.000 „U-Boote“ haben überlebt. Weil Sie von Berlinerinnen und Berlinern unterstützt wurden: mit Lebensmitteln, mit Kleidung, mit gefälschten Papieren und – was überlebenswichtig war – mit einem sicheren Versteck.

Ein paar Schritte durch den engen Durchgang in den Hof des ehemaligen Fabrikgebäudes, das kaum saniert ist, machen es leichter, sich das Haus im Jahr 1940 vorzustellen. Damals übersiedelte Otto Weidt – selbst fast gänzlich erblindet – mit seiner Werkstatt hierher. Er beschäftigt 35 behinderte Juden, mehrheitlich Blinde sowie einige Gehörlose in seiner Besen- und Bürstenbinderei, einem „wehrwichtigen“ Betrieb, weil er unter anderem für die Deutsche Wehrmacht produziert. Eine seiner Mitarbeiterinnen ist Inge Deutschkron, die – als eine der sehenden Beschäftigten – im Sekretariat tätig ist.

Die letzten beiden Zeilen ihres Gedichtes hat Otto Weidt bei seiner Hilfsaktion für Alice Licht wohl wörtlich genommen. Weidts jüdische Sekretärin überlebte mit dessen Hilfe und großem Glück die Nazizeit in Berlin und in zwei Konzentrationslagern.

Ein halbes Jahr nach dem Verfassen dieser Verse, im Oktober 1943, wird die Blinden-werkstatt als Zufluchtsort für Juden verraten und Alice Licht wird deportiert. Weidt reist Licht nach, unter dem Vorwand, der Leitung des KZ Auschwitz-Birkenau seine Bürsten zum Verkauf anzubieten. In Wirklichkeit hinterlegt er ihr Zivilkleidung, Geld und Medikamente in der Nähe des Lagers. Alice gelingt, als Truppen der Roten Armee heranrücken, die Flucht aus dem Lager; das Kriegsende erlebt sie in Otto Weidts Wohnung in Berlin.

Otto Weidt stammt aus ärmlichen Rostocker Verhältnissen und erlernt 1936, fast vollständig erblindet, das Bürstenhandwerk in Berlin. Er gründet die „Blindenwerkstätte Otto Weidt“, die sich seit 1940 in der gesamten ersten Etage der Rosenthaler Straße 39 in Berlin-Mitte befindet. Als entschiedener Gegner des Nationalsozialismus beschäftigt er ab 1939 hauptsächlich blinde und gehörlose Juden, denen der Arbeitsplatz durch die „Einsatzstelle für Juden“ des Berliner Arbeitsamtes zugewiesen wird. Sie stellen Besen und Bürsten auch im Auftrag der Wehrmacht her. Der Betrieb wird deshalb als „wehrwichtig“ eingestuft. Darüber hinaus organisiert Weidt Verstecke und Lebensmittel, Pässe und Fluchthilfe und schafft es, mit viel List und Bestechung von Gestapo-Beamten sowie einem Netzwerk aus Helfern eine heute unbekannte Zahl an Menschenleben zu retten.

Er stirbt 1947 im Alter von 64 Jahren. Die Werkstatt wird von seiner Frau Else Weidt bis zur Auflösung 1952 durch die DDR-Behörden weitergeführt.

Inge Deutschkron, damals 19 Jahre alt, begrüßt mich im Foyer des Museums. „Otto Weidt“, erzählt sie, „hat die Nazis gehasst; ich habe keinen zweiten Deutschen kennengelernt, der sie so verabscheut hat wie er. Unbeschreiblich.“ Weidt bezeichnete sich selbst als Pazifist, hatte im Ersten Weltkrieg den Dienst mit der Waffe umgangen, indem er sich zur Sanität meldete. Um jüdischen Mitbürgern helfen zu können, war es notwendig, ein gutes Einvernehmen mit dem Arbeitsamt für Juden herzustellen. „Otto Weidt kannte den Leiter des Arbeitsamtes, ein widerlicher Mensch, der mit uns nur herumschrie und uns als Dreckjuden beschimpfte. Weidt schaffte es mit Hilfe von Bestechungen immer wieder, blinde Juden für seine Bürstenbinderei von diesem Amt zugewiesen zu bekommen.“

Lange Zeit schien es so, also würden die jüdischen Mitarbeiter der Bürstenbinderei von den politischen Entwicklungen „draußen“ verschont bleiben. Weidt hatte ein ganzes Netzwerk von Helferinnen und Helfern etabliert. Ein jüdischer Arzt, mit einer Nichtjüdin verheiratet und so vor Deportation sicher, kann Weidts Schutzbefohlene behandeln, weil er Zugang zu Medikamenten hat. Ein Druckereibesitzer organisiert falsche Ausweispapiere. Einige wichtige Informanten warnen Weidt vor Großrazzien der Gestapo. Andere Helfer verstecken politische Flüchtlinge.

Aber dann erreicht eines Tages auch die Blindenwerkstatt Otto Weidt die Realität. Die Deportationen in die Konzentrationslager hatten begonnen. „Als der erste unserer Mitarbeiter die Verständigung erhalten hat, sich am Soundsovielten bei der Sammelstelle einzufinden, da ist Otto Weidt sofort mit einem Paket unter dem Arm zur Gestapo geeilt“, erinnert sich Inge Deutschkron. „Und dann kam er wieder und ging zu dem kleinen Levi und sagte zu ihm, also das ist erledigt. Und der staunte, und sagte, erledigt, wirklich? Ja, sagte Otto Weidt, weil wir ein wehrwichtiger Betrieb sind. Und wir lachten alle. Und so ging es mehrmals. Und insgeheim hofften wir, so wird es immer gehen.“ Was Otto Weidt antrieb? „Otto Weidt“, sagt Inge Deutschkron, „war ein Mensch. Das war damals nicht üblich. Ein Jude war ein Insekt, das man vernichten musste, war ein Verbrecher oder ein Krimineller, den man töten musste. Otto Weidt zeigte Mitmenschlichkeit, ob das nun auch deshalb der Fall war, weil er selbst fast blind war, kann ich nicht sagen. Aber Otto Weidt hat aus der Blindenwerkstatt eine Oase der Menschlichkeit gemacht.“

Weidt hatte die junge Frau aufgenommen, und ihr Arbeit gegeben, nachdem ihr Vater die Ausreise nach England zu Verwandten geschafft, aber der Kriegsbeginn verhindert hatte, dass sie und ihre Mutter außer Landes gelangen konnten. Die Lebensumstände wurden immer unerträglicher für die jüdische Bevölkerung. Die Verordnung, dass Juden einen gelben Stern sichtbar in Herzhöhe tragen müssen, war erlassen worden.

 

Schlimm war, wir mussten damals in so genannten Judenhäusern wohnen. Das waren Häuser, die Juden gehörten, und in jede dieser Wohnungen wurde ein Maximum an Juden hineingepfercht. Mutter und ich waren in einer Fünf-Zimmer-Wohnung untergebracht und es wohnten elf Menschen in dieser Wohnung. Es war furchtbar. Sie müssen sich vorstellen: Es gab einen Herd, ein Badezimmer, ein WC. Was sich da abgespielt hat an Zank, Ärger, an Aufregung und Angst, die da zutage kam. Und die Not und die vielen Gerüchte! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie fürchterlich das war.“

Immer dann, wenn die Situation für Inge Deutschkron unerträglich wurde, riskierte sie – sehr zum Entsetzen

ihrer Mutter – einen „Ausbruchsver-such“. „Dann bin ich ins Konzert ge-gangen, was uns Juden doch verboten war. Da bin ich mit der Jacke, auf der der gelbe Stern aufgenäht war, aus dem Haus gegangen und habe woanders, meist in einem dunklen Hausflur, die Jacke gegen eine ohne den Stern, die ich in meiner Tasche mit mir trug, getauscht. Ich muss Ihnen sagen – und es hört sich vielleicht komisch an – es war ein angenehmes Gefühl ohne den Stern zu sein, ohne Maske zu sein. Da konnte ich frei sein. Und ohne Angst – für eine kurze Zeit wenigstens.“

Die Gerüchte über Lager im Osten machten in Berlin die Runde. „Wir haben immer gesagt, die Transporte gehen gegen Osten. Wir haben nicht gewusst, wo sie hingehen. Man hat davon gesprochen, das müssen Arbeitslager sein. Aber dann gab es Zweifel. Wie kann das sein, Arbeitslager für Frauen mit Kindern oder für Menschen, die über 65 Jahre alt sind. Da kamen uns die Zweifel. Aber Sie müssen das verstehen, dass da nicht weiter gefragt wurde, welcher Mensch würde denn zugeben, dass er weiß, dass er in den Tod fährt. Die meisten haben es geahnt, das ist gar keine Frage. So war das.“

So wie viele andere Berlinerin-nen und Berliner, so hörte Inge Deutschkron auch die so genannten Feindsender. Allerdings bei Freunden, denn Juden durften keine Radios besitzen. „Im November 1942 habe ich heimlich BBC gehört und da habe ich das erste Mal gehört, dass Juden im Osten vergast werden. Meine erste Reaktion war, das ist Gräuelpropaganda. Aber von da an wurden Angst und Zweifel immer größer.“

Drei Monate später waren die Akti-vitäten der Gestapo unübersehbar. Nach und nach wurden die Bewohner der sogenannten Judenhäuser überfallsartig in großen Transport-LKWs abgeholt – ohne Vorwarnung. „Frau Gumsen, bei der wir immer unsere Wäsche haben waschen lassen, hat meine Mutter gedrängt, sie und mich verstecken zu dürfen. Denn der Sohn des Nachbarn, der junge Fritz, sei aus Polen zurückgekommen und habe erzählt, was sie dort mit den Juden machen. Und dann hat sie geweint.“

Ab dem 15. Januar 1943 waren Ella und Inge Deutschkron Illegale in Berlin. Versteckt von Familie Gumsen, die sich zu den Zeugen Jehovas be-kannten. „Als wir in die Illegalität gegangen sind, haben weder wir noch unsere Freunde gewusst, wie sich das auswirken wird, wie das ist, wenn man aus dem Leben aussteigt.“ Zwei Jahre und vier Monate sollten die beiden Frauen als U-Boote in Berlin leben.

„Ich kann nur von mir sagen, dass es zwanzig Familien waren, die meiner Mutter und mir geholfen haben, zu überleben. Da muss ich aber eine Abstufung machen. Die, die uns aufgenommen haben, haben das größte Risiko getragen. Die anderen haben uns mit Lebensmitteln, mit Brot, mit Kartoffeln und das, was man so benötigt, um über die Runden zu kommen, versorgt.“

Ella und Inge Deutschkron fanden mit Hilfe von fünf Berliner Familien immer wieder neue Möglichkeiten, unterzuschlüpfen. In Privatwohnungen, in einem Geschäftslokal, auch in einem Bootshaus. „Wissen Sie, viele Berliner – auch Sozialdemokraten – hatten sich kleine Holzboote gekauft. Auch deshalb, um draußen am See unbelauscht Gespräche über Politik führen zu können. Und in einem dieser Bootshäuser haben wir einen Winter lang gelebt. Wir durften natürlich nicht einheizen, da wären wir sofort aufgefallen.“

Die Verfolgung der jüdischen Bevölkerung Berlins wurde von Tag zu Tag intensiver. Aus Wien wurde die Gestapo geholt, um das zu verwirklichen, was in der Donaustadt bereits erreicht worden war: die Metropole „judenrein“ zu machen. Auch jüdische Spitzel hatte die Gestapo mitgebracht, denen man versprochen hatte, verschont zu bleiben, wenn sie versteckte Juden und deren Helfershelfer aufspüren. Diesen Aktionen fallen am 27. Februar 1943 auch die meisten Mitarbeiter der Blindenwerkstatt Otto Weidt zum Opfer. Nur eine Handvoll Beschäftigte bleiben in der Bürstenmanufaktur, darunter die versteckt lebende Inge Deutschkron.

„Die Berliner, die Juden versteckt haben, haben ihren Kopf riskiert. Darüber muss man sich im Klaren sein. Das waren die eigentlichen Helden Deutschlands. Die hatten ganz unterschiedliche Motive. Etwa politische Motive. Aus diesem Kreis hatten wir die meisten Helfer. Das waren Menschen, die nicht wussten, wie man diese Nazis bekämpfen kann. Nach 1933 gab es nur noch diese kleinen Widerstandsgruppen, und, seien wir ehrlich, die haben nicht sehr viel bewirkt, außer, dass sie sich selbst in Gefahr gebracht haben und im KZ landeten. Richtige Widerstandsarbeit war nicht möglich. Aber Juden verstecken war auch Widerstand. Hier waren es also politische Motive, die ausschlaggebend waren. Aber die Menschlichkeit war auch da. Zum Beispiel gab es bei vielen dieser einfachen Leute, die uns geholfen haben, dieses Gefühl, das ist Unrecht, was da geschieht, das darf nicht sein, nicht wahr. Jeder Mensch hat das Recht zu leben. Und die deshalb halfen. Und dann gab es jene, die aus religiösen Gründen sagten, das dürfe unter keinen Umständen geschehen und bereit waren, nach Möglichkeit zu helfen. Und schließlich gab es auch Menschen, die Hitler vertraut hatten. Blind vertraut hatten. Ein Bekannter von uns musste der NSDAP beitreten, weil er sonst an der Universität Berlin keine Stelle bekommen hätte. Und die brauchte er, um heiraten zu können, sonst hätte er die Familie nicht erhalten können. Und als die beiden, die eigentlich unpolitisch waren, merkten, wohin sich die Dinge entwickelten, wollten sie raus aus der NSDAP. Und die beiden haben dann begonnen, uns und anderen Juden zu helfen. Und als wir der Frau dafür dankten, sagte sie nur, dankt uns nicht, wir haben etwas gutzumachen.“

Nach dem Krieg bis weit in die 1990er Jahre war in der Debatte um Vergangenheitsbewältigung nur we-nig von jenen Deutschen die Rede, die Jüdinnen und Juden in den Jahren der Nazidiktatur beigestanden haben und so das Leben gerettet haben.

„Der Staat Israel hat es von Anfang an, von Beginn seiner Gründung an getan – diese stillen Helden zu ehren. In Yad Vashem gibt es eine eigene Abteilung, die jene Menschen, egal in welchem Land sie auch immer Juden geholfen haben, als „Gerechte“ geehrt werden. Deutschland wollte davon überhaupt nichts wissen. Wissen Sie, dass ist eigentlich kein Wunder, denn man hat hier versucht, die Vergangenheit unter den Teppich zu kehren. Wenn man zugegeben hätte, da sind Menschen gewesen, die andere gerettet haben, dann hätte man über alle Dinge, die damals geschehen sind, reden müssen. Das haben weder die katholische noch die protestantische Kirche zusammengebracht. Im Stuttgarter Schuldbekenntnis steht etwas von Schuld, richtig, aber der Jude kommt darin nicht vor, obwohl die Vernichtung der Juden das große Verbrechen dieser Zeit gewesen ist. Das diese stillen Helden so lange hierzulande nicht gewürdigt wurden, das finde ich schändlich.“

 

Inge Deutschkron hat in den vergangenen Jahren hartnäckig um Unterstützung für das Forschungs-projekt „Stille Helden“ geworben, nicht nur um darauf hinzuweisen, dass Berliner erhebliche Risken eingegangen sind, sondern dass Wi-derstand und Obstruktion möglich waren. Im kommenden Jahr wird es in der Berliner Rosenthaler Straße 39 eine eigene Ausstellung zum Thema „Stille Helden“ geben, erzählt mir zum Abschied Inge Deutschkron mit Stolz in der Stimme: „Wissen Sie, ich habe doch eine Verpflichtung als Überlebende.“

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