Seit 350 Jahren leben Juden in Amerika. Philipp Steger hat sich für NU angesehen, wie dieses Jubiläum in der Öffentlichkeit begangen wird. Fazit: Die Schattenseiten werden weitgehend ausgeblendet.
Von Philipp Steger
Eingezwängt in schwitzende Menschenmassen wartete ich unlängst an einem ungewöhnlich warmen Maitag in der Union Station, Washingtons Hauptbahnhof, auf den Zug nach New York. Hitze und Nervosität trieben mir den Schweiß ins Gesicht. Nervosität angesichts der Ungewissheit, ob bei dieser auf das bevorstehende verlängerte Wochenende zurückzuführenden Unzahl an Reisenden wohl auch für mich ein Sitzplatz abfallen würde oder ob ich die unvorstellbar lange Zeit von dreieinhalb Stunden am Gang stehen würde müssen. Wie viele Menschen neige auch ich dazu, in existenziellen Situationen wie dieser über den tieferen Sinn des Lebens zu sinnieren. Also sinnierte ich über den Anlass meiner zur Unzeit angesetzten Exkursion ins ferne New York City: die Ankunft der ersten Juden in Amerika. Wie mochten sich wohl jene 23 Juden gefühlt haben, die vor 350 Jahren nach einer langen und entbehrungsreichen Reise im September 1654 in New Amsterdam ankamen und feststellen mussten, dass sie nicht willkommen waren? Recife, die letzte noch unter niederländischer Herrschaft stehende Enklave Brasiliens, war in jenem Jahr an die Portugiesen gefallen, was für die rund 5.000 dort lebenden Juden das Ende einer friedvollen und ungestörten Koexistenz bedeutete. Diejenigen, denen noch rechtzeitig die Flucht vor den Portugiesen und der Inquisition gelang, fanden den Weg zurück in die Niederlande. Dorthin waren auch die erwähnten 23 Juden unterwegs gewesen, als sie in der Nähe von Jamaika einem unter spanischer Flagge segelnden Piraten in die Hände fielen. Mit Mühe und Not überzeugten die nach dem Zusammentreffen mit den Piraten vermögenslosen Passagiere ihren Kapitän, sie zumindest bis nach New Amsterdam zu bringen. Dort angekommen, hatten sie zuerst viel Unglück und dann ein wenig Glück. Ihr Unglück war Peter Stuyvesant, der offizielle Vertreter der Dutch West India Company in New Amsterdam und somit Inhaber höchster staatlicher Gewalt in der Kolonie. Stuyvesant ordnete eine Zwangsversteigerung der den Flüchtlingen noch verbliebenen Habseligkeiten an und ließ zwei der Juden einsperren, als der Erlös der Auktion zur Befriedigung der Forderungen des Kapitäns nicht ausreichte. Anschliessend wollte Stuyvesant, dem alle Nicht-Calvinisten und besonders Juden ein Dorn im Auge waren, den gerade erst Angekommenen das Aufenthaltsrecht verweigern und sie ausweisen. Aber, wie gesagt, die Neuankömmlinge hatten Glück im Unglück, denn in den protestantischen Niederlanden waren nicht alle vom Schlag des Herrn Stuyvesant. Von der Konzernzentrale kam der Befehl, die Juden in New Amsterdam aufzunehmen. Aber Stuyvesant gab sich nicht geschlagen und drangsalierte die Juden, wo er nur konnte. Alle bis auf einen gewissen Asser Levy warfen das Handtuch, bis schließlich Levy der einzige noch in New Amsterdam verbliebene Jude war, als die Engländer 1664 Peter Stuyvesant zur Übergabe der Kolonie zwangen und – in einem Moment besonderer Einfallslosigkeit – New Amsterdam in New York umtauften. Aber das ist schon eine andere Geschichte. Den Anfängen und Höhepunkten der Geschichte der Juden in Amerika widmen sich nun drei neue Ausstellungen in New York. Zwei davon sind im Center for Jewish History zu sehen, die Ausstellung „Greetings from Home: 350 years of American Jewish life“ und die vom Leo Baeck Institut organisierte Schau „Starting over: The Experience of German Jews in America, 1830-1945“. Die dritte Ausstellung, “Tolerance and Identity: Jews in Early New York”, läuft im City Museum. Die Rückschläge und Schattenseiten jüdischer Geschichte in den USA sparen die drei Ausstellungen jedoch weitestgehend aus, was nicht erstaunlich ist, wird die 350-jährige Geschichte im seit September des Vorjahrs währenden Gedenkjahr vor allem gefeiert und in einem positiven Licht betrachtet. Soweit, mir darüber Gedanken zu machen, war ich aber noch gar nicht, als ich unlängst in Washington auf den Zug nach New York wartete. Des Spekulierens über die Befindlichkeit der in New Amsterdam angekommenen Juden überdrüssig geworden, weil es mir meine bevorstehende Reise in einem überfüllten Zug um nichts angenehmer erschienen ließ, widmete ich mich dem Studium meiner Mitreisenden. Sie boten ein erfreuliches, beruhigendes Bild: ethnisch heterogen, aber doch irgendwie alle sehr ähnlich und vertraut. Das mag an der Uniformität moderner Accessoires liegen: die weißen Kopfhörer des schon längst nicht mehr coolen iPods; die ununterbrochen klingelnden Mobiltelefone; das auf Pappbechern allgegenwärtige Markenzeichen von Starbucks, eine Meerjungfrau, deren Brüste beim Eintritt in den Massenmarkt vorsichtshalber verdeckt wurden; und die Wasserflaschen, die jeder sich in der Öffentlichkeit über größere Distanzen bewegende Amerikaner mit sich führt – man weiß ja nie, wann das nächste Wasserloch kommt. Es war das vertraute Bild einer zufriedenen, wenn auch immer ein wenig gestressten amerikanischen Mittelklasse mit erstaunlich gleichgeschalteten Konsumbedürfnissen. In diesem Bild fehlten natürlich jene, die das alles möglich machen, indem sie zum stündlichen Mindestlohn von US $ 5,50 an der Erfüllung des amerikanischen Traums, dem uneingeschränkten Zutritt zum Konsumparadies, arbeiten. Das sind vor allem die legalen und illegalen Immigranten. Sie sind allgegenwärtig in den Küchen der Restaurants, in den Putztrupps der Hotels, auf den Feldern der großen Farmen, und vor allem in den Gärten der Vorstädte, wo sie das machen, wozu die gestresste Mittelklasse keine Zeit mehr hat: kaum benützte Gärten zu pflegen. Dabei dürfen sie sich zu den Glücklichen zählen. Hier sind sie zwar ganz unten, aber im Unterschied zu Tausenden anderen, die es ihnen nachmachen wollen, sind sie wenigstens schon angekommen im „Gelobten Land“. Das Gelobte Land! So nannte Mordechai Noah, einer der prominentesten amerikanischen Juden des frühen 19. Jahrhunderts, die USA, und gründete dennoch eine jüdische Kolonie, Ararat, in Buffalo, wo aber keiner hinwollte, weil man es in den vorhandenen amerikanischen Städten ganz gut aushalten konnte. Beim Besuch der drei New Yorker Ausstellungen kann man leicht den Eindruck gewinnen, dass die jüdischen Immigranten die Hemdsärmel hochkrempelten, sich ins Zeug warfen, einander unterstützten und schließlich den Erfolg erwirtschafteten, der ja unter _diesen Bedingungen gar nicht ausbleiben konnte. Kaum ist hier die Rede vom Antisemitismus, der den Juden auch in Amerika begegnete, oder von jenen, die außerhalb der jüdischen Gemeinschaft das ihre taten, um die allerorts massiven WiderstŠnde gegen weitere Immigranten zu überwinden, wie etwa der in den Ausstellungen zu kurz kommende Asser Levy. Levy nahm die von Stuyvesant verordneten Beschränkungen nicht hin, sondern wehrte sich dagegen. So erreichte er beispielsweise nach zweijähriger Auseinandersetzung die Aufhebung einer Verordnung, wonach die neu eingewanderten Juden nicht an der Bewachung und Verteidigung der Stadt teilnehmen durften, aber eine hohe Sondersteuer für den nicht verrichteten Bewachungsdienst entrichten mussten. Aber selbst Levys Hartnäckigkeit hätte nicht viel auszurichten vermocht, wären im Stadtrat nicht Leute mit einem Sinn für Gerechtigkeit gesessen. Die Komplexität der Erfolgsgeschichte der Juden in Amerika ist von großer Relevanz, denn obwohl sich, seitdem die ersten Juden in New Amsterdam landeten, viel gewandelt hat in der Welt, ist einiges unverändert. Da gibt es immer noch die, denen die Welt offen steht, und jene, für die die Grenzen so geschlossen sind wie eh und je. Während die einen immer heftiger an die Türen klopfen und Einlass begehren, verschanzen sich die anderen hinter immer dickeren Mauern. Und der besondere Zynismus der Festungsmentalität kommentiert die wachsende Flut an Flüchtlingen und Heimatlosen damit, dass die meisten ja ohnehin „nur“ wirtschaftliche Flüchtlinge seien. Und so konnte es beispielsweise geschehen, dass in der gnadenlosen Hitze der Wüste Arizonas in den vergangenen acht Monaten 72 Männer, Frauen und Kinder beim Versuch, illegal in die USA zu gelangen, ums Leben kamen. Zugegebenermaßen viele von ihnen, weil sie von skrupellosen Schleppern mitten in der Wüste im Stich gelassen wurden. Dass es aber überhaupt so weit kam, liegt an den so genannten, erst vor kurzem von Governor Arnold Schwarzenegger gelobten „Minutemen“, selbsternannten Hilfssheriffs, die Teile der gemeinsamen Grenze mit Mexiko kontrollieren und die Flüchtlinge auf immer gefährlichere Ausweichrouten durch die Wüste zwingen. Selbst im autokratisch regierten New Amsterdam Stuyvesants fanden sich einige wenige, die der moralischen Gleichgültigkeit ihrer Mitbürger eine Absage erteilten, das Unrecht bekämpften und dadurch die Fundamente für eine der beeindruckendsten Erfolgsstories der Menschengeschichte legten. Um wie viel mehr solcher Bürgerinnen und Bürger müsste es in den demokratisch regierten Ländern dieser Erde geben?