Von Peter Menasse
Wenn wir Juden den Blick weg von der Vergangenheit in Richtung Zukunft wenden, streift er notwendigerweise die Gegenwart. Und bleibt auf unangenehme Weise dort hängen.
Erstmals erreichen Raketen der Hamas Tel Aviv. Sie fallen ins Meer. Wenige hundert Meter entfernt stehen die großen internationalen Hotels. Angriffsziel der Hamas sind Menschen aus aller Welt, besser hätten sie es nicht zeigen können.
Der Nachrichtensprecher des österreichischen Staatsfernsehens eröffnet einen Bericht über die kriegerischen Handlungen mit der Frage, ob der Konflikt dem Umstand geschuldet sei, dass Benjamin Netanjahu sich der Wiederwahl stellen muss und daher seine Stärke demonstrieren will. Höret Leute, es ist Israel, immer Israel, nur Israel.
Am nächsten Tag klingt das beim Zweiten Deutschen Fernsehen ganz anders. Hier analysiert der Nahost-Experte des Senders, dass die Kampfhandlungen mit dem Raketenbeschuss der Hamas auf Israel begonnen haben. Die Hamas, so der Sprecher, wolle davon ablenken, dass sie wirtschaftlich so gar nichts auf die Reihe bekomme.
Zwei Moderatoren, zwei Interpretationen, zwei politische Welten.
Dem Sprecher des ORF sei von dieser Stelle aus bescheinigt, dass er sich gut im Mainstream der radikalen Linken eingebettet hat. In einem Aufruf der „Revolutionär-Kommunistischen Organisation zur Befreiung“ heißt es: „Die israelische Regierung unter Benjamin Netanjahu ist zwei Monate vor den Wahlen offenkundig fest entschlossen, um jeden Preis als ‚stark‘ zu erscheinen und dabei den Tod zahlreicher Menschen in Kauf zu nehmen.“ Fragt sich nur, wer da jetzt von wem abschreibt.
Der internationale Sekretär dieser kommunistischen Organisation, ein wegen Körperverletzung an einer Frau rechtskräftig verurteilter Mann, meint zum Konflikt nonchalant: „Wir hoffen, dass Israels Angriffskrieg in einer schweren Niederlage endet.“ Schön, wenn man, auf der Couch liegend, weit entfernt lebenden Menschen den Tod wünschen und sich dabei noch als mutiger Held des antifaschistischen Kampfes dünken kann.
So weit zum Konflikt im Nahen Osten, dessen Verlauf Ende November, wenn diese Zeilen entstehen, noch nicht absehbar ist. Weil jedoch ein Unglück selten allein kommt, wurde dieser Tage eine Umfrage der deutschen Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlicht, die nichts Gutes verheißt. Seit vielen Jahren weist die Stiftung anhand empirischer Befunde darauf hin, dass rechtsextremes Denken in Deutschland kein „Randproblem“, sondern eines der Mitte der Gesellschaft ist. Unter anderem belegen die Daten, dass mit leichten Schwankungen knapp zehn Prozent der Deutschen manifest antisemitisch eingestellt sind.
Die österreichische Bevölkerung kann sich hier endlich einmal auf Augenhöhe mit der deutschen messen. Maximilian Gottschlich konstatiert in seinem Buch Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich? eine antisemitische Immunschwäche der österreichischen Gesellschaft. Zwölf Prozent der Österreicher seien der Meinung, es wäre besser, keine Juden im Land zu haben. 22 Prozent sagten, dass sie sich Politiker wünschten, die etwas gegen den jüdischen Einfluss tun, und 44 Prozent seien der Meinung, dass die Juden zu viel Einfluss in der Geschäftswelt hätten.
Und was wir aus manchen anderen europäischen Ländern über Antisemitismus lesen, klingt ähnlich beängstigend.
Wen mag es wundern, wenn wir Juden derzeit nicht wirklich besten Mutes sind. Israel wird erneut von gewissenlosen Gegnern bekämpft, die Zivilbevölkerung kann sich nirgends im Land sicher fühlen, unsere Verwandten und Freunde sind gefährdet.
Die linken „Antifa-Truppen“ jubilieren darüber, dass jemand anderer für sie ihre Aggressionen auslebt. Das ist wie im Computerspiel, wo es darum geht möglichst viele Gegner abzuschießen oder in diesem Fall ins Meer zu werfen. Auf der anderen Seite haben wir unsere Feinde auf der Rechten, die wie ehedem ihre Großväter von einem dumpfen Antisemitismus beseelt sind, der keinerlei Reflexion zugänglich ist.
Aber halt! Es besteht doch noch Hoffnung. Wenn zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung Antisemiten sind, so bleiben immerhin achtzig bis neunzig Prozent, die uns nicht diskriminieren oder beseitigen wollen. Dort müssen wir ansetzen, wenn wir nicht ganz trübsinnig werden wollen.
Der neue Präsident der Kultusgemeinde und mit ihm alle Kultusräte sind aufgerufen, Wege der Kooperation mit der – in Österreich meist schweigenden – Mehrheit einzugehen, um gemeinsam die Dumpfbacken von links und rechts in die Schranken zu weisen. Alleine werden wir nichts ausrichten, wir brauchen Partner.
Die Mehrheitsgesellschaft und hier vor allem ihre Politikerinnen und Politiker müssen wissen, dass Antisemitismus eine der Säulen antidemokratischen Verhaltens ist. Wenn die altbackenen Möchtegern-Revolutionäre der Linken und die verstaubten Faschisten der Rechten nicht den Gegenwind der gesamten Gesellschaft spüren, sind nicht nur wir Juden, sondern ist die gesamte Demokratie in Gefahr. Das zu vermitteln, in aller Ruhe und Besonnenheit, sollte zu einer der Kernaufgabe der neuen Führung der IKG werden.