Was kann man aus der Weltwirtschaftskrise lernen? Der Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz fordert die Verantwortung der Staaten ein.
Eine Analyse von Heribert Voglmayr
Joseph Stiglitz, von der Hamburger „ZEIT“ als „der zur Zeit bedeutendste, kreativste und einflussreichste Wirtschaftswissenschaftler“ bezeichnet, ist vor allem mit den Büchern „Die Schatten der Globalisierung“ und „Die Chancen der Globalisierung“ bekannt geworden. Diese beiden Titel zeigen schon, dass er nicht, wie viele andere Globalisierungskritiker, in einer ablehnenden Haltung verbleibt, vielmehr in einer sehr differenzierten und vielfältigen Weise Vorschläge macht, wie der weltweite Verkehr von Gütern und Dienstleistungen mehr Menschen zugute kommen und weniger Verlierer produzieren kann. Ob es sich um weltweites Outsourcing (die Verlagerung von Produktion und Serviceleistungen in Billiglohnländer) oder die Bekämpfung der Armut handelt, um Klimaschutz oder Energieprobleme, um die Kontrolle transnationaler Konzerne oder die Reform des weltweiten Währungssystems – stets behält Stiglitz das Machbare im Auge und schildert die Zusammenhänge an Hand vieler Beispiele in ökonomisch fundierter Weise und in einer für wirtschaftspolitische Laien leicht verständlichen Sprache.
Seine zentrale These lautet, dass Staat und Markt aus dem Gleichgewicht geraten sind und das Diktat des Marktes nicht nur wenig sozial, sondern auf lange Sicht auch unwirtschaftlich ist. Er wendet sich gegen die neoliberalen Marktfundamentalisten, deren Theorie im Kern besagt, dass durch Liberalisierung der Märkte und Minimierung der Rolle des Staates die Wirtschaft wachse und über den „Trickle-down-Effekt“ (ein Durchsickern von Einkommenseffekten nach unten) die Wohlfahrt aller Menschen zunehme. Dieses Konzept wurde im wesentlichen von Reaganomics und Thatcherismus in die wirtschaftspolitische Tat umgesetzt und ist bis heute das Mantra des IWF (Internationaler Währungsfonds) für jede ökonomische Krisensituation. Es wird in alle Welt getragen, indem angeschlagene Volkswirtschaften der Dritten Welt nur dann IWF-Kredite erhalten, wenn sie sich einer radikalen Marktwirtschaft verpflichten.
Stiglitz zeigt etwa an Hand der Wirtschaftskrise, die 1997 von Ostasien ausging und auf Russland und Lateinamerika übergriff, dass vor allem jene Länder Schiffbruch erlitten, die dem Rat des IWF folgten. Gründliche Analysen ergaben, dass die Forderung des IWF nach Kapitalmarktliberalisierung und die damit einhergehenden spekulativen Finanzströme der Hauptauslöser für die Krise war – eine bemerkenswerte Parallele zur gegenwärtigen Finanzkrise in den USA und Europa. Länder wie China und Indien hingegen, die ihren eigenen Weg gingen, bewältigten die Krise sehr erfolgreich. Sie öffneten ihre Kapitalmärkte für langfristige Investitionen, unterwarfen aber die kurzfristigen Kapitalströme Beschränkungen, weil sie erkannten, dass letztere allzuoft destabilisierend wirkten und man damit keine Fabriken aufbauen und Arbeitsplätze schaffen kann.
China, Indien und andere Länder Ostasiens, die vorher unter Kolonialismus und Ausbeutung litten, haben die Globalisierung klug genutzt und mit einem beispiellosen Wirtschaftswachstum weit über zwei Milliarden Menschen aus der Armut befreit. Noch nie zuvor ist das Einkommen so vieler Menschen so schnell gestiegen. Neben China sind die USA der große Gewinner der Globalisierung, aber während die Wirtschaftsleistung stieg, stagnieren dort die Realeinkommen seit 25 Jahren und sind in den unteren Lohngruppen zurückgegangen.
Die großen Verlierer der Globalisierung sind die Entwicklungsländer in Afrika und Lateinamerika, die die niedrigsten Wachstumsraten und steigende Armut verzeichnen. Historisch gesehen ist Afrika von der Globalisierung am stärksten ausgebeutet worden, die Kolonialmächte eigneten sich die Rohstoffe des Kontinents an, ohne eine nennenswerte Gegenleistung zu erbringen und staatliche Strukturen aufzubauen. Die Erfolge in Ostasien – wo der Staat eine aktive Rolle spielt – und die Misserfolge in Afrika und Lateinamerika liefern für Stiglitz zusammen das stärkste Argument gegen eine radikale Marktwirtschaft.
Schlimm erging es auch Russland zwischen 1990 und 2000, als es bei der Systemumstellung der von IWF und US-Finanzministerium empfohlenen Stratgie einer übereilten Privatisierung folgte. Obgleich der russischen Regierung mehrfach versichert wurde, die Privatisierungen würden Wachstum und Investitionen ankurbeln, ging die Produktion um mehr als ein Drittel zurück. Der Gegensatz zwischen den Verheißungen der freien Marktwirtschaft und einer beispiellosen Verelendung hätte größer nicht sein können. Die Lebenserwartung sank in dieser Zeit um sage und schreibe vier Jahre. Die Oligarchen, die die Staatsbetriebe (oft auf korruptem Wege und zu Schleuderpreisen) erworben hatten, vertrauten der wirtschaftlichen Zukunft nicht und schafften ihr Kapital schneller außer Landes als der IWF in Form von Krediten hinein pumpte. Es war, als hätten die westlichen Berater geglaubt, man brauche den Vogelkäfig nur zu öffnen, und schon würden Vögel hinein fliegen. Aber die Vögelchen im Käfig zogen es vor, das Weite zu suchen.
Obwohl USA und Europa die Rhetorik des Freihandels perfektionierten, setzen sie Handelsabkommen durch, die die Märkte in den Entwicklungsländern für Güter aus den Industrieländern öffnen, ohne die eigenen Märkte für Waren aus der Dritten Welt im gleichen Umfang zu öffnen. Während die Industriestaaten ihre gigantischen Agrarsubventionen beibehalten, verlangen sie von den Entwicklungsländer, die Subventionierung ihrer aufstrebenden Industrien einzustellen. Die von den reichen Ländern geleistete Entwicklungshilfe beträgt weniger als ein Drittel dessen, was allein durch Handelshemmnisse an Mindereinnahmen verursacht wird.
Generell ist Stiglitz der Ansicht, dass Märkte zwar im Zentrum jeder erfolgreichen Volkswirtschaft stehen, dass aber der Staat für Rahmenbedingungen zu sorgen hat, in denen Unternehmen florieren (z.B. funktionierender Wettbewerb, keine Monopole, geregeltes Bankwesen) und dort eingreift, wo Märkte nicht das gewünschte Ergebnis bringen (z.B. soziale Absicherung, Umweltschutz). In den westlichen Demokratien sind im Laufe der letzten 200 Jahre und im Rahmen des Nationalstaates rechtliche und kontrollierende Strukturen aufgebaut worden als Reaktion auf Fehlentwicklungen, die in einem entfesselten Kapitalismus auftraten.
Da die wirtschaftliche Globalisierung die politische längst hinter sich gelassen hat, sind heute viele Probleme auf nationaler Ebene nicht mehr lösbar. Der Nationalstaat wird dadurch in seiner politischen Fähigkeit beschnitten, die Marktwirtschaft sozial verträglich zu gestalten. In Europa und den USA gilt die Globalisierung vielen als Bedrohung wegen der massiven Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland, die Entwicklungsländer sind aufgebracht darüber, dass die Industriestaaten die Weltwirtschaftsordnung einseitig zu ihrem Vorteil gestalten. Hier wie dort sehen viele Menschen, dass die Interessen von Finanzinvestoren über andere Werte gestellt werden und erleben die Globalisierung als eine Art Teufelspakt, in dem zwar die Wirtschaftsstatistiken schön aussehen, aber die armen Menschen ärmer werden, die Wohlfahrt der Mittelschicht bedroht ist und nur einige wenige Landsleute reicher werden. Das ist wohl ein wichtiger Grund dafür, dass derzeit aggressive, reaktionäre Nationalismen politisch so erfolgreich sind.
Stiglitz plädiert für einen globalen Gesellschaftsvertrag und eine faire Welthandelsordnung. Er sieht die große Herausforderung darin, demokratische Institutionen auf internationaler Ebene aufzubauen, um einen wirksamen globalen Ordnungsrahmen für die globale Ökonomie zu schaffen, der es ermöglicht, den von der Globalisierung aufgeworfenen Problemen effektiv zu begegnen und Fehlentwicklungen eines entfesselten globalen Kapitalismus zu vermeiden. Seiner Meinung nach wird das auf jeden Fall geschehen, die Frage sei nur, ob diese Veränderungen geordnet vor sich gehen oder in Form gewaltsamer Umbrüche und Kriege.
Ein anschauliches Beispiel liefert die aktuelle Finanzmarktkrise, die Europa und die USA zwingt, in einer Feuerwehraktion den drohenden Zusammenbruch des internationalen Bankwesens zu verhindern. Ob das nur eine Verlustabdeckung mit Steuergeld sein wird oder zur Einrichtung einer globalen Finanzmarktaufsicht führt, ist noch offen. Letzteres wäre aber wichtig, um die Gestaltung des Gemeinwesens wieder stärker in die politische Hand zu nehmen und nicht der „unsichtbaren Hand des Marktes“ zu überlassen.
ZUR PERSON
Joseph Stiglitz
Joseph Stiglitz, 1943 in den USA geboren, war Professor für Volkswirtschaft in Yale, Princeton, Oxford und Stanford, bevor er 1993–1997 Wirtschaftsberater der Clinton-Regierung und 1997–2000 Chefökonom der Weltbank wurde. 1901 erhielt er für theoretische Arbeiten zum Verhältnis von Information und Märkten den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Derzeit lehrt er an der Columbia University in New York.