J-Street – ein neues Narrativ

Die US-amerikanische Lobbying-Gruppe J-Street unterstützt eine Zweistaatenlösung zwischen Israel und den Palästinensern und versucht, intellektuellen Einfluss auf US-Politiker auszuüben. Ein Gespräch mit dem Co-Vorsitzenden Peter Frey.
VON MARTIN ENGELBERG (TEXT) UND AMY GELB (FOTOS)

NU: J-Street ist eine Lobbying-Organisation, wofür oder wogegen macht J-Street Lobbying?

Peter Frey: Das Hauptziel der Organisation ist es, das politische Gespräch über Israel in den USA zu verändern, indem man mit Geld und intellektuellem Einfluss auf US-Politiker einwirkt. Das amerikanische System basiert auf finanzieller Unterstützung von Politikern im Wahlkampf – Lobbying ist daher in den USA gang und gäbe. Im Jahr 2012 hat J-Street 70 Politiker unterstützt, davon haben 69 ihre Wahlen gewonnen. Das waren hauptsächlich Demokraten, und es wurden ungefähr zwei Millionen Dollar vergeben.

Warum würde J-Street eine ganz bestimmte Senatorin oder einen Repräsentanten unterstützen? Besteht da nicht die Gefahr, gerade jene Politiker zu unterstützen, die ohnehin eine anti-israelische oder vielleicht sogar antisemitische Einstellung haben?

Der große Unterschied zwischen den USA und Europa ist, dass man in Europa bei Politikern immer die Sorge hat, was rauskommt, wenn man nur ein bisschen kratzt. Das ist in Amerika nicht so. Die Art und Weise, wie wir Politiker aussuchen, ist sehr genau. Es gibt ein Konferenzgespräch, wo ca. 20 bis 30 Personen – inklusive mir – ein Interview mit diesen Politikern führen. Diese müssen dann ein Papier zu ihrer Position schreiben. Sie haben vollkommen Recht, es ist wichtig festzustellen, dass ihre Linie wirklich unserer Linie entspricht. Die Gefahr, dass es irgendwie zu extrem wird, sehe ich nicht wirklich. In den Anfangsjahren von J-Street war es für Politiker politisch gefährlich, die Unterstützung von J-Street zu akzeptieren. Das hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Es sind heute hauptsächlich Demokraten, und J-Street ist auch dafür kritisiert worden, nur Politiker der Demokratischen Partei zu unterstützen. Es ist aber noch immer praktisch unmöglich für Republikaner, Unterstützung von J-Street zu akzeptieren.

Was möchte J-Street damit erreichen?

Die Mission von J-Street ist klar: eine Zweistaatenlösung. Es bedarf starker amerikanischer Beteiligung, damit Israelis und Palästinenser zu dieser Zweistaatenlösung kommen können. Die amerikanische politische Szene war in dieser Frage bisher vollkommen dominiert von jüdischen Gruppen, deren Definition einer pro-israelischen Position sehr einseitig war. J-Street wurde als Gegengewicht dazu gegründet.

Was meinen Sie mit Pro-Israel?

Die Quintessenz der Debatte ist genau die Frage – was bedeutet es, pro Israel zu sein? Die alte Antwort war: Ganz egal, wie die aktuelle Politik einer israelischen Regierung ist, man unterstützt sie. Die Position von J-Street lautet: Wir unterstützen Israel, weil wir Israel lieben, weil wir uns Sorgen machen um die Zukunft von Israel; das bedeutet aber nicht, dass man nicht kritisch zu dem stehen kann, was die jeweilige Regierung macht, wenn man glaubt, dass sie Fehler begeht.

Das ist doch eine Bevormundung. Das bedeutet, die jüdische Gemeinschaft in Amerika muss Israel unter ihre Fittiche nehmen und sagen, was es tun soll, weil alleine schafft Israel es nicht.

So sehe ich es nicht. Es geht mehr darum, dass nach fast hundert Jahren des Konflikts offensichtlich ist, dass Israelis und Palästinenser es alleine nicht schaffen. Und die Zeit arbeitet gegen beide und gegen den Frieden. Mit jeder Generation wird es nur noch schwieriger. Ich glaube nicht, dass es eine arrogante Position ist. In Israel selbst sind zwei Drittel der Bevölkerung für eine Zweistaatenlösung. Bis zur jetzigen Krise war es auch bei den Palästinensern so, unter USJuden sind es 80 Prozent. Trotzdem wird diese Lösung nicht umgesetzt. Bei J-Street geht es nicht darum, die israelische Politik zu beeinflussen, es geht nur um die amerikanische Politik. Die Friedensinitiative von US-Außenminister John Kerry war genau das, wofür J-Street gearbeitet hat. Dass es leider nicht funktioniert hat, war eine große Enttäuschung. Es hat sich gezeigt, dass es – derzeit – nicht einmal mit amerikanischer Hilfe geht.

Da kann man sich natürlich überlegen, wie es bisher zu Friedenslösungen kam, zum Beispiel mit Ägypten. War das eher die Unterstützung der USA, oder war das in einem Moment, wo es eben ein „Window of Opportunity“ gab zwischen Israel und einem arabischen Land? Im Falle des Friedensschlusses mit Ägypten war es die mutige Entscheidung des damaligen Präsidenten Sadat, mit Israel Frieden schließen zu wollen, und Menachem Begin auf israelischer Seite, der als Hardliner so schmerzliche Kompromisse wie die Rückgabe des Sinai durchsetzen konnte.

Das ist keine Frage. Ich glaube, dass es auch dieses Mal nicht funktioniert hat, liegt vor allem daran, dass es einfach an Führungspersönlichkeiten mangelt. Es braucht Führungsqualitäten auf allen drei Seiten, bei den Israelis, Palästinensern und Amerikanern. Und in all diesen Jahren gab es nie die perfekte Konstellation. Es war auch viel Pech dabei. Wenn Ehud Olmert (israelischer Premierminister 2006–2009) nicht hätte abtreten müssen, wäre das die Chance gewesen. Er war offener und stärker für eine Zweistaatenlösung und kompromissbereiter. Die momentane Kombination macht es sehr schwer.

Also die handelnden Personen wären jetzt Mahmud Abbas, Benjamin Netanjahu und Barack Obama bzw. John Kerry. Hat Kerry glücklich agiert?

Kerry hat jedenfalls leider keinen Erfolg gehabt. Aber er und sein Beraterteam haben sehr, sehr hart und mit viel Geduld daran gearbeitet. Es ist aber schwer zu beurteilen, ob man es anders oder besser hätte machen können.

Von israelischer und jüdischer Seite gab es sehr viel Kritik gegenüber der Obama-Administration.

J-Street steht vollkommen hinter Obama und Kerry – in der Art und Weise, wie sie das Problem angehen. Ich glaube, die Kritik von jüdischer Seite kommt auf, weil man einerseits Frieden will, aber nicht bereit ist, – sicherlich schmerzliche – Kompromisse einzugehen. Ohne Kompromisse wird es aber nie zu einem Frieden kommen. Es ist leicht zu kritisieren, wenn ein Mediator versucht, die Seiten zusammenzubringen, diese aber beide nicht zu Kompromissen bereit sind. Ich empfand die Kritik an Obama von Anfang an als unfair. Man darf nicht vergessen, dass Netanjahu bei den USPräsidentschaftswahlen 2012 auf eine Art und Weise Mitt Romney, den republikanischen Gegenkandidaten von Präsident Obama, unterstützt hat, die es noch nie gegeben hat. Das war unerhört. Von den fünf Millionen Juden in den USA haben bei den letzten Wahlen über 70 Prozent Obama gewählt. Die Organisationen, die sich als Repräsentanten der jüdischen Gemeinde in den USA ausgeben, sind sehr konservativ, nicht nur in Bezug auf Israel, sondern auch prinzipiell, sie sind eigentlich zum Teil republikanische Organisationen. Im Gegensatz zu Europa, wo es offizielle Gemeinden mit Wahlen gibt, gibt es in den USA keine durch Wahlen legitimierten jüdischen Organisationen.

Wie sehen Sie AIPAC, die große und vor J-Street einzige Israel-Lobbying- Organisation?

AIPAC ist wahrscheinlich die überhaupt erfolgreichste Lobbying-Gruppe in Amerika. Ihr Ziel ist die Förderung der amerikanisch-israelischen Freundschaft. Die Organisation macht gute Arbeit, ist aber im Laufe der Jahre mehr und mehr nach rechts gezogen.

Ist AIPAC denn nicht auch für eine Zweistaatenlösung?

AIPAC sagt, dass sie für eine Zweistaatenlösung sind, genauso wie Netanjahu sagt, dass er für eine Zweistaatenlösung ist. Es reicht aber nicht zu sagen: „Ja, wir sind für eine Zweistaatenlösung“, wie es die meisten Politiker machen, ohne eben die Themen Jerusalem, Grenzen, Siedlungen usw. voll anzugehen.

Liegt es wirklich an Israel und der richtigen amerikanischen Haltung, dass dies nicht zustande kommt?

Nein, es hat meiner Meinung nach nicht stattgefunden, weil Israelis und Palästinenser nicht imstande waren, die Themen gemeinsam so anzugehen und die Kompromissmöglichkeiten wirklich zu eruieren. Es liegt an beiden Seiten. Aber J-Street ist der Meinung, dass sich Israel durch seine Stärke – militärisch, wirtschaftlich, sozial – in einer Position befindet, in der es für die Israelis viel leichter wäre, diese Kompromisse anzugehen und auszuhandeln. Der Anstoß kann nur vom Stärkeren kommen. Auf der anderen Seite bin ich überzeugt, dass der Status quo für Israel nicht funktioniert. Voriges Jahr war ich mit J-Street auf einer zehntägigen Israel-Reise, wo wir wirklich alle Akteure, von Präsident Schimon Peres bis zum Chef der Siedlerbewegung, aber auch Friedensaktivisten gesehen haben. Wir waren auch drei Tage im Westjordanland. Und wenn man nachher in Israel bei Verwandten und Freunden ist, war es ein Schock für mich zu sehen, wie ahnungslos sie sind. Als ob es den Konflikt nicht gäbe.

Ist es wirklich so, dass die Israelis daran glauben, dass der Status quo die Lösung ist? – oder sagen sie nicht vielmehr: Es gibt keine Lösung, daher müssen wir mit dem Status quo leben oder müssen wir den Status quo lebbar machen.

Es ist eine emotionale, fast fatalistische Einstellung, wo eigentlich nicht viel reflektiert wird. Dann kann man nur noch sagen: Wir sind zum Scheitern verurteilt, und es gibt keine Lösung. Die Einstellung von J-Street ist: Es ist nicht zu spät, es gibt eine Lösung, nur die Lösung kann nicht der Status quo sein.

Wenn man sich das so anhört, würde man meinen, die amerikanischen Juden haben wirklich keine anderen Sorgen, als sich um die Politik Israels zu kümmern.

Eine Studie hat gezeigt, dass in den USA die Kluft zwischen den orthodoxen und liberalen Juden immer größer wird. Orthodoxe Juden sind in jeder Beziehung konservativer und in punkto Israel absolut auf der härtesten Linie, sie sind sehr engagiert, und man könnte glauben, dass Israel das einzige Thema ist, das sie tangiert, bis auf Steuern. Die liberalen, progressiven Juden hingegen können sich immer weniger mit Israel identifizieren. Es wird auf Dauer ein Problem für Israel, wenn sich die Mehrheit der amerikanischen Juden von Israel abwenden. J-Street spielt da eine sehr positive Rolle.

In Europa gibt es mit JCall einen Ableger von J-Street. Ist der Versuch, differenzierte Positionen zu Israel einzunehmen, in Europa nicht noch viel schwieriger, wo es ja noch viel mehr darum geht, dafür zu sorgen, dass Israel Unterstützung bekommt? Wären Sie in Wien – würden Sie die J-Street- Position auch in Österreich vertreten?

Es ist keine Frage, dass die Situation in Europa aus historischen Gründen komplizierter ist als hier. Aber die israelische, palästinensische Dynamik hat damit wenig zu tun. Meine Antwort darauf wäre: Ja, es ist eigentlich egal, wo man lebt, für mich ist es die einzig richtige Position, eine nuancierte Position, die wirklich aus einer Liebe zu Israel kommt, um Israel zu helfen.

Sie sagen, Sie wollen das Beste für Israel und sind der Meinung, dass die jetzige israelische Politik nicht gut für die Zukunft Israels ist. Was passiert, wenn Ihre Position in Israel nicht gehört wird? Wollen Sie dann Druck ausüben? Würden Sie so weit gehen, Amerika oder auch europäische Länder aufzufordern, Sanktionen gegen Israel zu setzen?

Sie haben völlig Recht. Wie viel Druck man ausübt, ist eine Gratwanderung. Als Folge der nicht so erfolgreichen Friedensverhandlungen hat sich J-Street zum Beispiel jetzt viel expliziter gegen Siedlungen ausgesprochen. Mit der BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions – dt. Boykott, Kapitalabzug und Sanktionen) gegen Israel haben wir aber überhaupt nichts zu tun. Davon distanzieren wir uns völlig. Im Gegenteil: J-Street arbeitet vehement gegen BDS, sowohl an den Unis als auch in anderen Bereichen.

Kommen wir zu Ihrer persönlichen Geschichte. Wie kamen Sie zu J-Street?

Ich habe einen guten Bekannten, der vor drei Jahren bei einer Reise von J-Street dabei war und einen Travel Blog geschrieben hat, der mich sehr beeindruckte. Gleichzeitig hatte ich im Laufe der Jahre begonnen, das eigene Narrativ über Israel – und wir sind in den 1960er- und 70er-Jahren alle mit dem gleichen Narrativ aufgewachsen – in Frage zu stellen. Meine Frau und ich haben erkannt, dass das Narrativ der Vergangenheit nicht das gleiche ist, wie das Narrativ der Gegenwart.

Eine andere Sicht auf Israel zu entwickeln ist eine Sache. Dazu auch noch politisch aktiv zu werden, ist dann noch einmal ein ganz anderer Schritt.

Im Jahr 2012 gingen wir auf Einladung unseres Bekannten zur National Conference von J-Street in Washington. Und es war für uns beide ein augenöffnendes Erlebnis, einfach hochintelligent, nuanciert, Dialog von allen Seiten, von jeder Warte des Problems. Und ich muss sagen, im Laufe der Jahre war ich vielleicht zehnmal in Israel. Bei den ersten Reisen habe ich eigentlich nichts gesehen. Ich habe gesehen, was lustig und schön ist und auch emotional von der jüdischen Seite, aber nichts, das mit der Gegenwart, mit dem Konflikt zu tun hat. Und diese Konferenz war für mich ein Aha-Erlebnis – daraufhin habe ich beschlossen, aktiver zu werden. Nun bin ich Co-Vorsitzender der New Yorker Organisation von J-Street. New York ist ein komplizierter Ort für J-Street. Es gibt hier die bei weitem größte Anzahl von Juden, es ist sehr divers und es ist sehr schwierig, nuanciert in der Mitte zu agieren.

Peter Frey, 54, ist in Wien geboren und aufgewachsen. Nach der Schule ging er zum Studium in die USA und machte danach eine Karriere als Banker an der Wall Street. Vor einigen Jahren zog er sich aus dem aktiven Berufsleben zurück und engagiert sich seither bei kulturellen und sozialen Projekten. Er ist derzeit Co-Vorsitzender der New Yorker Organisation von J-Street.

J-Street ist eine US-amerikanische Lobbying-Gruppe, die eine Zweistaatenlösung zwischen Israel und den Palästinensern unterstützt und dazu Einfluss auf die amerikanische Politik nimmt. J-Street wurde 2008 als liberaler Gegenpol zur großen Israel-Lobbying-Organisation AIPAC gegründet. Der Name J-Street bezieht sich darauf, dass es in
den alphabetisch gereihten Straßennamen Washingtons zwischen der I-Street und der K-Street keine J-Street gibt. Darüber hinaus ist die K-Street der Sitz vieler einflussreicher Lobbying-Firmen. Dementsprechend soll der Name J-Street erstens für jüdisch stehen und zweitens andeuten, dass die Anliegen dieser neuen Organisation bisher keine Vertretung hatten.

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