IT-Boss Steve

Im Jahr 1939, als Vera Stephanie Buchthal fünf Jahre alt war, wurde sie mit ihrer Schwester nach England geschickt. Dort ging sie später in einer Abendschule ihrer Vorliebe für Mathematik nach und gründete in den 1960er Jahren ein IT-Unternehmen. Sie änderte ihren Namen in Steve Shirley und schrieb mit ihrer Softwarefirma eine Erfolgsstory.
VON IDA SALAMON
ÜBERSETZUNG: KITTY WEINBERGER

Ihr Gang wirkt entschlossen und ihr Blick ist voll Verständnis. Wenn sie spricht, betont sie jeden Satz und erzeugt Aufmerksamkeit. Sie scherzt, sie lacht und strahlt gleichzeitig Ruhe aus. Mit ihrer Firma hat sie ein Vermögen gemacht, und sie gibt ihr Geld strategisch aus. Sie liebte ihren kranken Sohn, sie pflegte ihn und verlor ihn. Über ihr bewegtes und erfülltes Leben, ihre Erfolge und Schicksalsschläge und ihre Lebensprinzipien sprach Dame Stephanie Shirley mit NU.

NU: Wenn Ihr Leben ein Film wäre, was wären die wichtigsten Szenen? Können Sie diese Szenen beschreiben und gleichzeitig Ihre Wünsche, Bemühungen, Ängste und Entscheidungen in diesen Zusammenhängen?

Stephanie Shirley: Die Ankunft in der Liverpool Station mit einem Kindertransport im Juli 1939: dunkel, düster, grau, Verwirrung, Angst, Verzweiflung.
Die Arbeit in der berühmten Post Office Research Station mit ERNIE (Electronic Random Number Indicator Equipment) – dem Computer für Prämienanleihen: intellektuell, aufregend, idealistisch, männliche Wissenschaft.
Der Beginn meines Software-Unternehmens für Frauen: Teil meines Kampfes gegen Sexismus. Wenn fesche junge Männer anboten, meine Ausrüstung zu tragen, antwortete ich leicht gereizt: „Ich glaube an gleiches Gehalt und trage daher auch meine eigenen Sachen.“ (Heutzutage seufze ich „Wie nett. Vielen Dank.“) In einem kleinen Ziegelhäuschen arbeiten – das Feuer schüren – das Telefon von neun bis fünf abheben. Idyllische erste Tage mit dem Baby Giles.
Die Einlieferung meines Sohnes Giles in eine geschlossene Anstalt und seine Entlassung nach zwölf Jahren: Im Alter von zweieinhalb Jahren der Wandel von einem zufriedenen, glücklichen Baby zu einem wilden, unbändigen Kleinkind. Es war nicht eine Trotzphase, Giles war schwer autistisch, vergaß die wenigen Worte, die er schon beherrscht hatte und sprach niemals wieder.
Die Gründung der Prior’s Court Schule: Das war das größte meiner Wohltätigkeitsprojekte. 30 Millionen Pfund und fünf Jahre meines Lebens. Es ist jetzt ein international anerkanntes Internat für 60 autistische Schüler mit einem, wie es Sozialarbeiter nennen, „herausforderndes Verhalten“. Es gibt auch ein Zentrum für Jugendliche, für 20 Studenten im Alter zwischen 19 und 25 Jahren.
Giles unerwarteter Tod: Es war bittersüß. Es gibt kein Wundermittel dafür, Schmerz zu ertragen. Aber ich habe jetzt gelernt, ohne Giles, ohne dass ich von ihm gebraucht werde, zu leben.

Sie waren sehr jung, als Sie ihre eigenes Software Unternehmen – die F. International Group – gründeten. Was veranlasste Sie dazu?

Ich war noch keine dreißig. Es sollte ein soziales Unternehmen sein – ein Kreuzzug für die Frauen. Eine Art von familienfreundlichem Betrieb, in dem ich selbst gerne gearbeitet hätte.

Das F. im Namen der Gesellschaft steht für Feminismus, Flexibilität und Freiberuflichkeit. Am Anfang stellten Sie nur Frauen an, manche brachten sogar ihre Kinder mit zur Arbeit. Was bedeutet Feminismus für Sie?

Freiberufliche Angestellte arbeiteten von zu Hause. Viele Jahre lang beschrieb uns die Harvard Business Review als „Betrieb ohne Büros“. Ich bin eine Feministin in meinen Taten, aber nicht im Wortsinn. Aber ich bin eine Humanistin und glaube fest daran, dass jeder seinen Beitrag leisten kann.

Sie änderten Ihren Namen auf Steve, damit Sie bessere Chancen hatten, in der Geschäftswelt akzeptiert zu werden. War diese Entscheidung das Zeichen einer mutigen Frau mit Sinn für Humor oder reine Berechnung?

Es war der Vorschlag meines Mannes, mit dem ich jetzt seit fünfzig Jahren verheiratet bin, den Spitznamen der Familie „Steve“ zu verwenden, damit ich eine Antwort auf meine Briefe zur Geschäftsentwicklung bekäme. Ich erreichte überhaupt nichts, wenn ich sie mit meinem zweifach weiblichen Namen – Stephanie Shirley – unterschrieb. Also es war berechnend. Aber ich habe auch Sinn für Humor. Meine Briefköpfe in der ersten Zeit waren alle mit Kleinbuchstaben. Und im Titel meiner Memoiren (die kurz vor der dritten Auflage stehen) gibt es ein Wortspiel: Let IT go (Anm.: IT – Information Technology).

Dreißig Jahre nach der Gründung verkauften Sie Ihr Unternehmen, und Ihre Angestellten bekamen einen Anteil am Kapital. Wie war Ihr Managementstil ganz im Allgemeinen?

Ich bin stolz darauf, dass ein Viertel des Unternehmens in die Hände der Angestellten überging. Siebzig von ihnen wurden Millionärinnen. Ich bemühte mich, eine Chefin zu sein, wie ich sie selbst gern gehabt hätte – kollegial und nicht nach dem Muster „Befehl und Kontrolle“. Ein Element von Erfolg ist es, sich mit erstklassigen Menschen zu umgeben. Und Menschen, die man mag. Mein Führungsstil war eklektisch – anfangs sehr unternehmerisch, überall zur gleichen Zeit anwesend.

Sie haben viele Auszeichnungen bekommen. Welche ist Ihnen die wichtigste und warum?

Mein OBE (Order of the British Empire) für Verdienste um die Industrie im Jahr 1980. Es bedeutete die Anerkennung der Gesellschaft für mich als eine Frau, die als unbegleitetes Kind angekommen war. Ich würde mir wünschen, dass die heutigen Flüchtlinge auch so willkommen wären.

Ihre Mutter war Österreicherin. Zu Beginn dieses Jahres waren Sie in Wien. Haben Sie noch eine Beziehung zu Wien?

Wien ist eine schöne Stadt mit eleganten Straßen und wunderschönen Palais. Früher kamen mir die Tränen, wenn ich Wiener Musik hörte, das war die sentimentale Vergangenheit; es ist mir gelungen, diese Geister hinter mir zu lassen.

Sie wurden als Vera Stephanie Buchthal geboren. Der Vorname Stephanie bezieht sich auf die Stephanskirche. Warum haben Sie Ihren Namen geändert?

Wie viele Menschen anglisierte ich meinen Namen, als ich die britische Staatsbürgerschaft annahm. Ich wählte den Namen Brooke zu Ehren des romantischen und sehr englischen Dichters Rupert Brooke. Die Namensänderung war eine Stärkung.

Waren Ihre Eltern traditionell jüdisch?

Ein Rabbiner hätte mich nicht als Jüdin anerkannt (weil meine Mutter nicht jüdisch war). Die Nürnberger Rassengesetze definierten allerdings jeden, der auch nur 1/16 jüdisches Blut hatte, als Juden, als Volksfeind. Mein Vater war, wie seine Eltern, säkularer Jude.

Sie geben viel Geld für wohltätige Zwecke aus, obwohl Sie als Kind das Böse im Menschen kennenlernten. Was bezwecken Sie?

Wie bei vielen Philanthropen ist mein Ziel, „etwas zu verändern“. Auch meinem Leben, das gerettet wurde, einen Wert zu geben. Mir wurde so viel gegeben, was kann ich anderes tun als selbst zu geben?

Ist es ein Problem für Sie, wenn ich Sie zu den tragischen Ereignissen in Ihrem Leben befrage?

Ich finde es schwierig, über meinen verstorbenen Sohn zu sprechen, aber gehe meistens professionell damit um. Ich muss mich davor schützen, näher auf die Nazigräuel einzugehen. Als Teenager nahm ich an einigen Nürnberger Prozessen teil und werde nie vergessen, was ich dort erstmals gehört habe.

Sie waren fünf Jahre alt, als Sie mit Ihrer jüngeren Schwester in einem Kindertransport nach England geschickt wurden. Erinnern Sie sich noch an diese Tage und an die Zeit unmittelbar danach?

Ich erinnere mich an Kindersorgen: die verlorene Puppe, nicht das verlorene Zuhause; den Buben, dem immer wieder übel war; Kinder, die in den Gepäcknetzen schliefen; das Meer zu sehen – oder mehr noch zu riechen – bei der Überfahrt nach Harwich, bei der mir schlecht wurde. Es gibt jetzt dort eine Bank zur Erinnerung, dem Meer zugewendet, von wo aus wir erstmals das grüne, schöne Land England sahen.
Das waren traumatische Tage. Wir waren staatenlos, ohne Geld, und natürlich ohne ein Wort Englisch. Alles war anders: Pflegeeltern, Essen, Installationen, Eiderdaunen statt Tuchenten, Milch in unserem Tee… Wir mussten uns an vieles gewöhnen.

Warum war die Familie nach dem Krieg getrennt?

Wie viele Paare, die während des Kriegs getrennt wurden, hatten sich unsere Eltern in dieser Zeit verändert. Mein Vater konnte seine Zukunft nur als Richter in Deutschland sehen; meine Mutter, die ihr Leben in England aufgebaut hatte, konnte sich nicht vorstellen zurückzugehen. In modernen Zeiten war die offensichtliche Lösung: Scheidung.

In Krisensituation Ihres Lebens litten Sie an Depressionen. Wie kämpften Sie dagegen an?

Ich ging sechs Jahre lang zur Therapie in der Tavistock Clinic in London, am Anfang mit drei Sitzungen pro Woche, dann zwei, dann eine, schließlich alle zwei Wochen, langsam auslaufend. Der Therapeut nach Jung war wunderbar.

Das Tragischste in Ihrem Leben war, wie Sie vorhin sagten, dass Ihr Sohn an Autismus litt. Wie sind Sie damit und mit seinem Tod umgegangen?

Mein Sohn benötigte ständige Aufmerksamkeit und Pflege, viele waren überrascht, dass ich in der Lage war, mich um ihn zu kümmern und gleichzeitig meine Firma aufzubauen. Aber die einzige Zeit, in der ich Giles vergaß, war bei der Arbeit; und die einzige Zeit, in der ich meine Arbeit vergaß, war die Zeit mit Giles. So ergänzten sich die zwei Stressfaktoren viele Jahre lang. Es gibt keinen richtigen oder falschen Weg, Schmerz auszuhalten. Ich habe nun gelernt, ohne Giles zu leben, ohne dass er mich braucht.

Was machen die Wissenschaftler mit Ihrer finanziellen Unterstützung im Kampf gegen Autismus?

Ich unterstütze die medizinische Erforschung des Autismus vor allem über die gemeinnützige Organisation „Autistica“. Sie hat über einen Zeitraum von zehn Jahren ein Großprojekt (BASIS) finanziert, das auf eine frühzeitige Diagnose dieser Störung hinarbeitet, und eine Autismus-Bank angelegt – sie enthält unter anderem das Gehirn meines Sohnes; als letztes Geschenk von mir wird sie auch meines erhalten. Nach einer Studie, die betroffene Familien untersuchte, hat sich „Autistica“ auf drei noch kaum erforschte Gebiete konzentriert: frühe Intervention (mit der Universität Manchester), psychische Verfassung bei Autismus (am Institute of Psychiatry) und Altwerden mit Autismus (an der Universität Newcastle).

Sie sind sehr bekannt im öffentlichen Leben in England. Was genießen Sie am meisten?

Als Patriotin bin ich stolz, für dieses Land meinen Beitrag zu leisten. Am meisten gefallen hat mir wahrscheinlich meine Funktion als nationale Botschafterin der Philanthropie 2009/2010.

Was für ein Gefühl ist es, die drittreichste Frau in Großbritannien genannt zu werden?

Die Berechnung war komplett falsch! Als ich hinter der Königin auf der Liste der reichsten Frauen stand, verschenkte ich so viel Geld, dass ich jetzt überhaupt auf keiner Liste mehr stehe!

Was sind Ihre Lebensprinzipien, und was sind die Gründe für Ihren Erfolg?

Meine Prinzipien gehen zurück auf meine Erfahrung des Kindertransports, und sie sind heute noch so stark wie eh und je. Ich bin entschlossen, mein Leben nicht zu verzetteln, jeden Tag lebenswert und so mein Leben erhaltenswert zu machen. Die gleichen Prinzipien gelten auch für meinen „Erfolg“, was immer das sein mag. Ich bin froh, dass ich verwirklicht habe, was in mir war.

Sie haben achtzehn Monate gebraucht, um Ihr Buch zu schreiben. Die Zahl 18 steht im Judentum für das Leben. Gibt es da einen Zusammenhang? Und warum nannten Sie Ihre Memoiren Let IT Go?

Sie werden enttäuscht sein, aber da gibt es keinen Zusammenhang. Bei meinem säkularen Leben war es ein (glücklicher) Zufall, dass ich achtzehn Monate benötigte (natürlich nicht Vollzeit – an Abenden, wann immer mir danach war). Der Titel meiner Memoiren war schwierig. Waren sie die Geschichte eines Flüchtlingskinds? Oder waren sie die Geschichte einer Frau, die in den 1960er Jahren eine Hightech-Firma gründete, die an die Börse ging und schließlich 8.500 Menschen beschäftigte? Oder die der Mutter eines autistischen Kindes? Oder einer Philanthropin, die schon sehr viel Geld gespendet hat? Es zeigt sich, dass ich von allem etwas bin.

Sie haben einmal gesagt: „Je mehr ich hergebe, desto reicher wird mein Leben.“ Was meinten Sie damit?

Let IT Go ist ein Wortspiel – Information Technology – und bezieht sich auf das buddhistische Konzept, nichts zu wollen. Dinge machen nicht unbedingt glücklich.
Es macht mir mehr Freude, meinen Reichtum herzugeben, als ich je damit hatte, ihn zu erwerben.

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