Israel vor Staatskrise

Die Proteste gegen den Justizumbau der rechtsreligiösen Regierung von Benjamin Netanjahu haben auch im Sommer angehalten. Ende Juli beschloss die Knesset das entsprechende Gesetz. @Danielle Spera

Trotz Massenprotesten hat die rechtsreligiöse Regierung den ersten Teil der Justizreform in der Knesset durchgesetzt. Wenn das Höchstgericht dieses Gesetz beeinspruchen sollte, droht eine Verfassungskrise, oder Schlimmeres.

Von Otmar Lahodynsky

In der Knesset haben die Parteien der rechtsreligiösen Regierung von Premier Benjamin Netanjahu am 24. Juli die Rechte des Höchstgerichts eingeschränkt, mit 64 von 120 Stimmen. Die gesamte Opposition verließ zuvor unter „Schande!“-Rufen den Plenarsaal. Damit wurde die sogenannte „Angemessenheitsklausel“, mit der das Höchstgericht Gesetze und Personalentscheidungen prüfen und ablehnen konnte, abgeschafft. Ende 2022 hat es auf diese Weise die Bestellung des vorbestraften Vorsitzenden der Schas-Partei, Arje Deri, zum Innenminister verhindert.

Mit Spannung wurde nun eine Entscheidung des Höchstgerichts zu diesem Gesetz erwartet, mit dem es im September selbst über die von der Regierung beschlossenen Einschnitte in die eigene Kompetenz entscheidet: Schränkt es die Grundgesetze, welche in Israel an Stelle einer Verfassung gelten, zu stark ein, wie die Gegner der Justizreform behaupten? Anhänger der Rechts-Regierung argumentieren genau umgekehrt. Die Justiz dürfe sich in Regierungsbelange nicht mehr einmischen. So soll es dem israelischen Parlament künftig möglich sein, mit einfacher Mehrheit Gesetze per Beharrungsbeschluss durchzudrücken, auch wenn diese zuvor vom Höchstgericht als verfassungswidrig abgelehnt wurden. Die Regierung soll auch Mitsprache bei der Ernennung von Richtern erhalten. Demokratische Kräfte sehen darin einen Versuch der rechts-religiösen Regierung, Israel in einen autoritär geführten Staat umzubauen. Der bekannte Historiker Yuval Noah Harari warf Netanjahu einen „Staatsstreich“ vor.

Vor dem umstrittenen Beschluss gingen in Israels Städten wieder zehntausende Demonstrantinnen und Demonstranten auf die Straße. Tausende Reservisten der Armee haben angedroht, aus Protest gegen die Pläne der Regierung nicht mehr zum Dienst zu erscheinen. Am 25. Juli erschienen viele israelische Tageszeitungen mit schwarzen Titelseiten. „Ein schwarzer Tag für Israels Demokratie“ stand darunter. Zum Jubel der Abgeordneten der Regierungsparteien merkte Oppositionspolitiker Jair Lapid giftig an: „Was feiert ihr da? Das Ende des einzigen jüdischen Staates?“ Die Aktienmärkte in Israel reagierten mit Kursstürzen, der Schekel befand sich im Sturzflug.

Wenn das Höchstgericht den ersten Teil der Justizreform tatsächlich beeinspruchen sollte, etwa als unzulässigen Eingriff in die Gewaltenteilung, dann steht Israel vor einer veritablen Staatskrise. Der frühere Premierminister Ehud Olmert warnte sogar vor einem Bürgerkrieg, ausgelöst durch „zivilen Ungehorsam mit allen Konsequenzen für die Stabilität des Staates und die Handlungsfähigkeit der Regierung“, so der Likud-Politiker, der wegen Korruption zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Einen ähnlichen Prozess gegen ihn will Netanjahu auch mit Hilfe der Justizreform mit allen Mitteln verhindern.

Vieles erinnert an Polen oder Ungarn, wo rechtsgerichtete Regierungen ebenfalls zuerst die unabhängige Justiz ans Gängelband nahmen. Doch während beide EU-Staaten genau deshalb Strafverfahren und Kürzungen bei EU-Förderungen erleben, gibt es in Israel keine übergeordneten Institutionen. Der engste Verbündete, die USA, hat bis jetzt in den Konflikt nicht eingegriffen, sieht man davon ab, dass Netanjahu noch immer auf eine Einladung ins Weiße Haus wartet. Joe Biden empfing im Juli nur den israelischen Staatspräsidenten Izchak Herzog und verwies auf die Bedeutung von Demokratie und Menschenrechten. Aber er bekannte sich weiterhin zur Unterstützung Israels durch die USA, auch gegen die atomare Bedrohung durch den Iran.

Gleichzeitig dreht sich die Spirale der Gewalt in Israel und im besetzten Westjordanland sowie im Gaza-Streifen weiter. Anschläge von palästinensischen Extremisten in Israel lösten im Juli einen Einsatz der israelischen Armee im Flüchtlingslager von Dschenin im Westjordanland aus. Bei der Razzia – die Armee hinterließ eine Spur der Zerstörung – wurden zwölf Palästinenser getötet. Die Armee erklärte, sie habe umfangreiche Lager von Waffen und Bomben gefunden.

Doch die Eskalation von Gewalt liegt zu einem großen Teil an der neuen Regierung Netanjahus, die die jüdische Besiedlung des Westjordanlandes und Ostjerusalems massiv vorantreibt. Die Gewalt radikaler Siedler gegen Palästinenser nimmt stetig zu. Zugleich verliert die Palästinensische Autonomiebehörde zunehmend die Kontrolle über Teile des von ihr verwalteten Gebietes. Populäre lokale Milizen in Städten wie Dschenin oder Nablus propagieren offen den bewaffneten Widerstand. Manche Experten rechnen schon mit einer neuerlichen Intifada.

Nach jedem Anschlag fordert der rechtsradikale Polizeiminister Itamar Ben-Gvir, dass mehr Israelis Waffen tragen und verwenden sollten. Anfang Juli fuhr ein 20-jähriger Palästinenser in Tel Aviv mit dem Auto in Passanten und stach anschließend auf Menschen ein. Es gab mehrere Schwerverletzte. Der Täter wurde von einem bewaffneten Zivilisten erschossen. Ben-Gvir sagte, der Vorfall zeige, wie „wichtig und effektiv“ die Bewaffnung von Zivilisten sei.

Israels Politiker und Bürger haben immer stolz darauf hingewiesen, dass ihr Land die einzige Demokratie im Nahen Osten sei. Zum 75. Geburtstag erlebt Israel nun eine tiefe Spaltung und Auseinandersetzungen, die im schlimmsten Fall in einen Bürgerkrieg münden könnten, wie besorgte Bürger warnen. Die Anhänger der rechtsreligiösen Regierung verlangen dagegen eine Entmachtung der ihrer Meinung nach linken Bollwerke in der Justiz und fordern dazu ein härteres Vorgehen gegen Palästinenser und den Bau von noch mehr jüdischen Siedlungen in den seit Jahrzehnten besetzten Gebieten im Westjordanland.

Sorgen löste zuletzt auch der Plan der Regierung aus, Budgetmittel von der Wissenschaft zu religiösen Einrichtungen umzuleiten. Nach einem Arbeitspapier der israelischen Koalition sollen Gelder umverteilt werden, von der Wissenschaft hin zu religiösen Bildungsstätten. Die Regierung könnte einfach Forschungsfelder austrocknen und dafür andere Forschungsthemen gezielt unterstützen. Dies passierte beispielsweise in den USA, als Ex-Präsident Donald Trump während seiner Amtszeit die Forschung zu Umweltthemen massiv zurückgefahren hatte.

In Israel würde eine solche Budget-Umschichtung aber auch eine Änderung in der Gesellschaft herbeiführen: eine Stärkung des religiösen Lagers auf Kosten der liberal-säkularen Schichten.

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