Dass mein Bruder, seine Frau und seine Kinder, die zum Zeitpunkt des Massakers gerade in Wien waren, sofort nach Israel zurückkehrten, verstand ich zunächst nicht. Jetzt denke ich, das Wort „Zusammenhalt“ beschreibt ihre
Entscheidung am besten.
Von Cheli G.
Vor ein paar Jahren hat sich das Wort „Herzensort“ in meine Gedanken eingeschlichen. Wenn man es ausspricht, so dachte ich, klingt es vermutlich etwas dramatisch. Vielleicht umschreibe ich es deshalb lieber. Wenn ich diesen Begriff in Worte oder eher in viele Orte fassen müsste, dann würde ich folgende wählen: Tel Aviv, Ra’anana, Haifa, Jerusalem und Jokne’am. Der vielleicht etwas andere Familienausflug durch Israel. Ein Land, das uns fünf Geschwister immer wieder zusammenführt. Das Fundament für die späteren Zusammenkünfte und die Verbindung hat mein Vater gelegt. Er wuchs in Israel auf und wurde dreifacher Vater – doch wo die Liebe hinfällt: Anfang der 1990er Jahre entschied er sich dazu, nach Österreich zu ziehen, Wien ist bis heute sein Lebensmittelpunkt. Mit dieser Entscheidung wurde auch die Familie erweitert, und es folgte ein Pendeln zwischen zwei Ländern. Je älter ich wurde, desto weniger stellte sich für mich die Frage, ob Österreich oder Israel jener Ort sein würde, an dem wir uns wiedersehen werden. Immer war es Israel. Die Familie wuchs um Nichten, Neffen, Cousinen und Cousins weiter an.
Um den dramatischen Beigeschmack der ersten Zeilen nochmals aufzugreifen, fand ich auch hier ein Wort, das meinen Zustand bei der Abreise sehr gut beschrieb. Es fühlte sich immer etwas schwer an, ein bisschen wie Herzschmerz und vorzeitiges Heimweh. Es hat mich immer sehr überrascht, wie stark ich emotional reagierte, sowohl bei der Einreise, während meines Aufenthalts, als auch bei der Abreise.
Wenn man mich fragt, wohin genau die Reise gehen wird, dann lautet meine Antwort: „Nach Israel, aber überall verteilt“. Und so verteilt wie wir sind, versammeln wir uns dann auch immer wieder am selben Fleck. Wenn schon, denn schon, lautete hier immer die Devise.
Achterbahn der Gefühle
Meine Familie habe ich zuletzt im August besucht, es war das dritte Mal in diesem Jahr. Mein nächster Besuch war für den 25. Oktober angesetzt. So richtig geplant waren diese Reisen nie; ich wusste nur, dass ich die Abstände meiner Besuche nie zu groß halten möchte. Es wurde auch zur Gewohnheit, dass ich allein nach Israel fliege. Ich wusste ja immer, was mich erwarten würde: Eine richtig große Familie, viel Liebe, Humor und ganz schön viel Balagan, also fröhliches Chaos, als siebenfache (Halb-)Tante. Mein Vater ist entweder in Wien geblieben oder war bereits vor Ort.
Mit meiner Nichte, der Tochter meiner Halbschwester, habe ich vor Kurzem ein längeres Telefonat geführt. Ihr Militärdienst neigte sich dem Ende zu, und sie wollte mit mir über ihre weiteren Pläne sprechen. Es war ihr wohl ein Anliegen, dass ich gewisse Vorhaben kommentiere und meine Meinung teile. Ganz klar war, dass sie bald nach Europa reisen möchte. Diesen Wunsch hatte nicht nur sie, sondern den hatten auch ihre Brüder. Ich glaube, sowohl mein Vater als auch einer meiner Brüder hat eine Art inspirierende Rolle für meine Nichte und meine Neffen eingenommen. Mein Halbbruder hat, wie mein Vater damals, Israel verlassen, ist durch Europa gereist und hat sich in Deutschland niedergelassen. Wenn ich weiter darüber nachdenke, ist es spannend, dass auch für ihn und mich der Ort des Wiedersehens immer Israel war. Eine kürzere Strecke würde es in jedem Fall geben.
An einem Freitagabend Anfang Oktober nahm ich mir dann fest vor, endlich meinen Flug zu buchen, denn mein Urlaub kam immer näher. Der Tag danach hat dieses Vorhaben schnell in den Hintergrund gerückt. Durch eine Nachricht meines Bruders in den frühen Morgenstunden haben sich die darauffolgenden Tage und Wochen zu einer persönlichen Achterbahn der Gefühle entwickelt.
In dieser Nachricht ging es weniger um die Frage, wo genau wir unser Treffen ansetzen sollten, sondern viel eher, wann und ob jetzt der richtige Zeitpunkt wäre. Ich verstand nichts mehr, und bevor ich überhaupt meine Gegenfrage stellen konnte, begann ich instinktiv, meine Verwandten telefonisch zu kontaktieren. Zunächst war niemand erreichbar, auch mein Vater nicht, der gerade in Israel war. Es klingt absurd, aber ich habe in diesem Moment keine Sekunde lang die Medien durchforstet, obwohl die Nachrichten doch im Minutentakt eintrudelten.
Dann begann ich, auch die Schreckensmeldungen aus Israel zu lesen, zu hören und anzusehen. Letzteres stellte sich für mich als keine gute Idee heraus, denn es verstärkte nur mein Kopfkino und erhöhte den Druck, noch schneller an Informationen aus erster Hand zu kommen. Ich spazierte durch die Stadt, verschickte Nachrichten und versuchte immer wieder jemanden zu erreichen. Es fühlte sich ein bisschen so an, als dürfte ich meinen Emotionen gerade keinen freien Lauf lassen.
Kühlen Kopf bewahren
Ich wollte einfach einen kühlen Kopf bewahren und meine Gedanken nicht zu weit treiben lassen. Es war schon fast absurd, dass an jenem Samstag um 12 Uhr in Österreich der Sirenen-Probealarm losging. An einem Ohr war der Hörton meines Smartphones und am anderen Sirenen. Erst am Sonntag erreichte ich meine engsten Verwandten. Alle waren emotional aufgewühlt, wussten nicht so ganz, was sie sagen sollten. Es war ein bisschen wie ein kollektiver Herzschmerz. Ich versuchte einfach nur zuzuhören, und genau das fühlte sich nicht gut an. Das konnte doch nicht alles sein, was ich in dieser Situation tun konnte? Solidarisch sein, ja, aber wie? Ich erinnere mich, dass meine Nichte mir erzählte, wo sie sich befand, als die ersten Sirenen angingen und wie sie sich gefühlt hat, als ihr klar wurde, dass es nicht einfach nur ein Alarm ist. Natürlich weiß ich nicht, wie das ist, deshalb wäre es nicht angebracht, hier zu kommentieren, dass ich es mir gut vorstellen kann, wie dieses Gefühl der Panik in diesem Moment sein muss. Denn das konnte und kann ich wirklich nicht.
Das ist jetzt fast drei Wochen her. In der Zwischenzeit habe ich meinen Halbbruder, dessen Frau und Kinder in Wien getroffen. Man könnte meinen, dass es sich bei dem folgenden Gedanken um einen sehr naiven meinerseits handelt. Was als fünftägiger Aufenthalt in Europa geplant war, war ein fast zweiwöchiges Absitzen in einer fremden Stadt. Es war zunächst fast unmöglich, einen Flug nach Israel anzutreten, welcher nicht kurze Zeit später gestrichen wurde. Ich war fast erleichtert, denn ich konnte mir kaum vorstellen, dass meine Familie unter diesen Umständen nach Israel zurückkehrt. Hier kommt meine Naivität ins Spiel. Ich verstand zunächst nicht, weshalb man mit drei kleinen Kindern zurück in ein Land gehen möchte, in dem gerade ein Krieg ausgebrochen ist. Vielleicht wollte ich es zunächst auch nicht verstehen. Es war so, als müsste ich eine schützende Hand über unsere drei Jüngsten der Familie halten. Wir trafen uns, und ich musste mir den einen oder anderen Kommentar verkneifen. Zu aufgeheizt war die Stimmung und ich wusste, dass meine Meinung keinen Platz haben würde. Viel wichtiger war mir, dass wir noch eine gemeinsame Zeit miteinander verbringen. Alles andere war zu diesem Zeitpunkt nicht relevant. Mein Halbbruder reiste mit seiner Familie noch an diesem Tag zurück nach Israel.
In den Arm nehmen
Seitdem sind wir täglich in Kontakt. Die Stimmung könnte man, symbolisch gesprochen, mit einem riesigen, schweren Stein vergleichen. Das war vorhersehbar, würden manche meinen. Für mich ist es nun mit etwas Abstand auch klar, weshalb mein Bruder seinen Rückflug nicht abgewartet hat. Ich denke, das Wort „Zusammenhalt“ beschreibt seine Entscheidung am besten. Man nimmt sich an den Händen und hält sich fest. Je mehr Menschen sich an die Hand nehmen, desto stärker ist das Band, so sehe ich das. Ich bin nicht mit meinen Geschwistern in Israel aufgewachsen, aber nun spüre ich, vor allem in den letzten Tagen, eine gewisse Verpflichtung vor Ort zu sein und meine Unterstützung anzubieten. Genau aus diesem Grund berührt es mich, dass ich regelmäßig gefragt werde, wie es mir mit der Situation geht. Ich werde von jenen Menschen angesprochen, die sich täglich auf das Ungewisse einstellen müssen und an ihre Grenzen gehen.
Am Ende des Tages fühlt es sich so an, als würden wir uns alle kurz in den Arm nehmen und uns wissen lassen, dass wir aneinander denken. Jetzt mehr denn je.