Intoleranz ohne Laktose

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Lange Zeit war ich der Meinung, ich wäre der toleranteste Mensch, den die Menschheit je gesehen hat. Wenn alle so wären, gäbe es keine Kriege.

Von Ronni Sinai

Mein Weltbild wird brüchig. Die Zeiten meines radikalen Humanismus scheinen hinter mir zu liegen. Nicht nur allergische Reaktionen auf Hausstaubmilben und Gräser weisen mich auf gewisse Intoleranzen hin. Statt erwarteter Altersweisheit und Gelassenheit regen mich originelle Verhaltensweisen meiner Mitmenschen zunehmend auf. Doch kaum jemand nimmt davon Notiz, denn nach außen halte ich ja die von mir selbst aufgestellten Compliance-Regeln meiner Ich-Company ein, zu welchen selbstverständlich Political Correctness zählt.

Zunehmend füttere ich aber unter der Oberfläche den Wolf in mir, der sie alle am liebsten zerfleischen würde: Verschwörungstheoretiker, Besserwisser, warnende Virologen, selbstgerechte Journalisten, Rechtsextreme, Linksextreme, Wiener Kids, die keine Paradeiser kennen, Untersuchungsausschüsse, Feministen, Neoliberale, Gewerkschaftsbosse, Ausbeuter, Autokraten, religiöse Eiferer, radikale jüdische Siedler, palästinensische Terroristen, andere Terroristen, Esoteriker, Korinthenkacker, SMS-Protokolle, Autofahrer, Radfahrer, Fußgänger, Impfverweigerer, Dumpfbacken und schummelnde Tennisspieler. (Prinzipiell sind in dieser hier aus Platzgründen endenden Aufzählung Frauen und Männer gleichermaßen gemeint.)

Autointoleranz

In eine kognitive Dissonanz gerate ich bei der Aufarbeitung meiner Aggressionen gegenüber allem außerhalb meiner Normierung Befindlichen. Eine Autointoleranz sozusagen, der sich nicht einfach damit begegnen lässt, mit dem Rad zu fahren. Ist das etwa ein Long-Covid-Syndrom? Nun ja, ich lasse mal die Synagoge im Schtetl und nutze die Gelegenheit dieses Aufsatzes, um mit mir – und den anderen – Frieden zu schließen.

Liebe deinen Feind

Ein möglicher Zugang wäre der neutestamentarische, deine Feinde zu lieben. Dieses Unterfangen scheint mir eine Nummer zu groß zu sein. Die Vorstellung, Herbert Kickl abzuschmusen, würde mit definitiv nicht zum gewünschten Ergebnis führen, obwohl die paradoxe Intervention schon auch was kann. Für Kickl wäre dieses Modell eher anzudenken, würde er doch mit und an mir Antisemitismus und Homophobie gleichzeitig abarbeiten. Allerdings bin ich heterosexuell.

Das Spiegelgesetz

Es lautet: „Alles, was ich am anderen kritisiere oder sogar bekämpfe und an ihm verändern will, kritisiere, bekämpfe und unterdrücke ich in Wahrheit in mir selbst und hätte es auch in mir gerne anders.“ Das trifft es schon eher, etwa wenn ich mich im strömenden Regen mit dem Rad fahrend über einen rücksichtslosen Autofahrer ärgere. Da kann ich das Spiegelgesetz anwenden und anerkennen, dass ich jetzt selbst lieber im Auto säße. Fahre ich dann tatsächlich im Auto und bin wütend über demonstrierende Covidioten, die ein Verkehrschaos verursachen, funktioniert diese Methode des Perspektiventausches wiederum nicht so gut. Zurück an den Start also.

Perfect Imperfection

„Wer von euch frei von Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Erneut bediene ich mich des Neuen Testaments. Mag auch bedeuten: Leben und leben lassen. Oder Bekenntnis zur perfekten Imperfektion. Jemand macht Fehler, weil sie oder er es nicht besser kann oder weiß. Mein Tennisgegner bildet sich bloß ein, dass mein Schmetterball im Out gelandet ist. Außerdem könnte mir das auch schon passiert sein. Leider habe ich jedoch für den Sehkraftmangel meines Gegners weniger Verständnis als für meinen eigenen.

Die Selbstannahme

Letztlich probiere ich es aus Verzweiflung mit Selbstannahme. Ich stehe einfach zu meiner Intoleranz. Die können mich alle mal, dabei lächle ich sie freundlich an und denke mir mein Teil. Zuschlagen wäre auch mal schön, dazu bin ich aber zu faul. Auch so kann man Kriege vermeiden. Fortschritt ebenfalls. Von diesem braucht aber eh niemand mehr. Und sollte sich in meinem Leben doch noch eine Laktoseintoleranz entwickeln, trink ich halt nur mehr Fiaker-Kaffee.

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