Es gibt Zwerge und es gibt Weltmeister. Dann gibt es aber auch noch geniale Schriftsteller: Ein solcher, Elias Canetti mit Namen, denkt sich 1931 einen Zwerg aus, der Schachweltmeister werden will; und gibt dem Zwerg einen Namen – Siegfried Fischer, genannt „Fischerle“ –, der Schachspielern ein paar Jahrzehnte später äußerst geläufig wird.
VON ANATOL VITOUCH
Die Geschichte des jüdischen Schachs lässt sich auch als eine Geschichte der literarischen Fiktion erzählen. Ähnlich bemerkenswert wie der Anteil an Juden unter den größten Schachmeistern der Geschichte ist bekanntlich der jüdische Beitrag zur literarischen Moderne. In Wien begegneten einander Schachmeister und Literaten ab dem späten 19. Jahrhundert in den Kaffeehäusern der Stadt – für beide Fraktionen der Gattung „Luftmenschen“ eine Art Lebensmittelpunkt.
Wen sollte es da wundern, dass der Typus Schachmeister bald auch das literarische Interesse großer Schriftsteller erregte? Insbesondere, da die zumeist von der Hand in den Mund lebenden Brettartisten in ihrer Exzentrizität und der sturen Begeisterung für „ihr“ Spiel schon für sich allein, noch ohne jede literarische Zuspitzung, das Bild des im Dickicht der Großstadt irrlichternden Individuums erstehen ließen – ganz so, wie es etwa den Vertretern des Expressionismus vorschwebte.
Die Geschichte des Dr. B.
Stefan Zweigs Schachnovelle darf zweifellos als das bekannteste Ergebnis dieser Faszination gelten. Die Geschichte des Dr. B., der sich das Schachspiel in Gestapo-Gefangenschaft selbst beibringt und Jahre später, auf einer Atlantik-Überfahrt, den regierenden Weltmeister Czentovic besiegt, hat bis heute nichts von ihrer Wirksamkeit eingebüßt. Verantwortlich dafür ist nicht zuletzt die wunderbar ambivalente Art, in der Zweig das Schachspiel in seiner Novelle symbolisch auflädt.
Zuerst wird Dr. B. in der Gestapo- Haft durch die Konzentration auf das Spiel, das er als Weißer und Schwarzer zugleich gegen sich selbst spielt, vor der Preisgabe geheimer Informationen gerettet. Später, auf dem Schiff, ist es das erneute Eintauchen in die Welt des Spiels, das einen Rückfall auslöst und Dr. B. fast endgültig dem Irrsinn verfallen lässt. So wenig realistisch die Geschichte eines manisch übenden Autodidakten auch sein mag, der nach Studium eines einzigen Büchleins den Weltmeister schlägt: In dieser literarischen Setzung hallen die Träume vom Aufstieg zur Spitze nach, für die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts manch Schachverrückter ein Leben in Armut und intellektueller Eigenbrötlerei in Kauf nahm.
„Ein Mensch, was ka Schach spielt, is ka Mensch. Im Schach sitzt die Intelligenz, sag’ ich. Da kann einer vier Meter lang sein, Schach muss er spielen, sonst is er ein Tepp. (…) Was glauben S’, wer hier der Meister is, vom ganzen Lokal? (…) Der Meister heißt Fischerle und sitzt am selben Tisch wie Sie. Und warum hat er sich hergesetzt? Weil Sie ein mieser Mensch sind.“
Der da spricht, der „Fischerle“ aus Elias Canettis Debütroman Die Blendung, ist geradezu der Gegenentwurf zu Zweigs ehrenwertem, aber charakterlich nicht allzu interessanten Dr. B. Während Letzterem sein Autor per Federstrich Augenhöhe mit dem Weltmeister attestiert, ist der missgebildete Zwerg Siegfried Fischer von nagenden Selbstzweifeln geplagt.
Fischerle als liebenswerteste Figur des Romans
Zwar ist Kleinmeister Fischerle im Kaffeehaus „Zum idealen Himmel“ der unbestrittene König auf den 64 Feldern; zwar posaunt er täglich aus, dass ihm nur die Wettkampfbörse fehle, um den großen Capablanca vom Schachthron zu stoßen. In Wahrheit aber ist sich der von den Prostitutions- Einnahmen seiner alternden Gattin lebende Fischerle seines begrenzten schachlichen Horizonts schmerzhaft bewusst. Dennoch ist der Zwerg dem Spiel rettungslos verfallen: „Wissen S’ aber, was ein Wunder ist, dass Sie kein Schach spielen. Die ganze Buchbranche spielt Schach. Ist das a Kunst bei der Buchbranche? Der Mann nimmt sei Schachbüchel her und lernt die Partie auswendig. Aber glauben Sie, mir hat einer darum geschlagen? Von der Buchbranche keiner, so wahr Sie dazugehören, wenn’s wahr is!“
Der erst 23-jährige Canetti entwickelte für die Blendung wirklichkeitsnahe „Sprachmasken“, mithilfe derer er die Romanfiguren scharf voneinander abhob. So beeindruckt das Werk heute, abgesehen von seinen fantastisch-absurden Wendungen und seinem erzählerischen Sog, auch als eine Art Museum der in der Wiener Zwischenkriegszeit gängigen Sprechweisen.
Dass die Rezeptionsgeschichte der Blendung dennoch holprig und stockend geriet, lag auch daran, dass ihr Autor sich später von seinem Erstling distanzierte. Wofür nicht zuletzt die Zeichnung des Fischerle verantwortlich sein mag, die Canetti im Rückblick selbst antisemitisch erschien. Auch wenn diese Lesart nicht gänzlich von der Hand zu weisen ist: Fischerle ist trotzdem zweifellos die interessanteste und – mit ein wenig gutem Willen betrachtet – auch die liebenswerteste Figur des Romans.
Zudem fällt es schwer, sich nicht an den ersten Weltmeister der Schachgeschichte erinnert zu fühlen: Den kleinwüchsigen, gehbehinderten und cholerischen Wilhelm Steinitz, der seine Karriere in Wien begann, trennt vom armen Fischerle vorwiegend, dass Steinitz später wirklich Weltmeister wurde.
Zwar endete auch Wilhelm Steinitz verarmt, an die Tragik Fischerles reicht sein Ableben aber nicht heran: In einem Samuel Becketts Dramen vorwegnehmenden Handlungsstrang wird Fischerle zum Gehilfen des weltfremden und geistig verwirrten Gelehrten Dr. Kien, dem er jeden Abend beim Abladen von dessen imaginärer „Kopfbibliothek“ in einem mit Packpapier ausgelegten Hotelzimmer hilft.
Nachdem Fischerle Kien – übrigens völlig zu recht – schrittweise um dessen Vermögen erleichtert hat, sieht er seinen Plan einer Herausforderung Capablancas in Übersee erstmals in greifbare Nähe gerückt. Nur um von einem Freier seiner Frau erschlagen zu werden, der ihm auch noch aus Hass mit einem Brotmesser den Buckel absägt.
Andernfalls, wer weiß, hätte der Weltmeister wenigstens in der Welt der literarischen Fiktion schon in den 1930er-Jahren Fischer geheißen.