Erich und Kitty Sinai sind seit 61 Jahren verheiratet und noch länger mit der Hakoah verbandelt. Auch ihre Söhne Fred und Ronald sind Makkabiade-erprobt. Die Spiele in Wien werden für die Sinais ein ganz besonderes Ereignis.
Von Fritz Neumann (Text) und Heribert Corn (Fotos)
Es ist ein schönes Haus, das da auf einer Anhöhe in Weidling bei Klosterneuburg steht. Besonders schön ist der Garten, in dem hohe Bäume ausreichend Schatten spenden, sodass man auch an heißen Tagen gemütlich beisammensitzen kann. Und doch spielt sich das häusliche Familienleben nicht nur im Garten und im großen Wohnzimmer ab, sondern auch im Untergeschoß. Hier stehen ein Tischtennistisch und der Hometrainer, auf dem Erich, 93 Jahre alt, wenn es seine Gesundheit erlaubt, immer noch täglich eine halbe Stunde abspult. Hier hängen alte Wimpel und Fotos an der Wand, hier stehen Pokale auf einem Tisch, allesamt Dokumente aus sechs Jahrzehnten jüdischen Sports in Wien. Hobbyraum als Bezeichnung wäre eine glatte Untertreibung. Hakoah-Raum, das passt am ehesten.
Kaum eine Familiengeschichte ist so eng mit der Makkabiade verknüpft wie die Geschichte der Familie Sinai. Für sie wird nun, bei der 13. Europäischen Makkabiade in Wien, ein Traum in Erfüllung gehen und ein Kreis sich schließen. Erich Sinai, 1917 in Wien-Floridsdorf geboren, war zu jung, um an den ersten beiden Makkabiaden (1932, 1935) teilzunehmen. Erich spielte Handball und dies ausgezeichnet, Freunde hatten ihn zum Training bei der Hakoah mitgenommen, die in der Zwischenkriegszeit mit 4000 Mitgliedern der größte Sportverein der Welt war. 1938 hatte Erich Sinai ein Stammleiberl und sollte fix bei den Spielen in Tel Aviv dabeisein. „Ich hatte“, erzählt er, „sogar bereits eingezahlt.“ Für die Reisekosten mussten die Sportler immer schon selbst aufkommen. Die Reise 1938 ist freilich ausgefallen, die dritte Makkabiade sollte erst zwölf Jahre später stattfinden.
Dazwischen lagen Krieg und Shoah, die mehr als sechs Millionen Juden das Leben kosteten. Erich Sinai war gerade noch rechtzeitig aus Wien nach Riga geflohen, nachdem er sich zwei Tage und zwei Nächte lang um einen Pass angestellt hatte. Wie zuvor in Wien war er in Riga als Schneider tätig, bis er auch dort vom Krieg eingeholt wurde. Er wurde von den Russen vor dem Einmarsch der Deutschen in ein Arbeitslager nach Sibirien und ein Jahr später nach Kasachstan deportiert. „So seltsam es klingt, war es noch ein Glück im Unglück“, bemerkt er heute dazu. Denn die in Riga verbliebenen Juden wurden von den Nazis umgebracht.
„Ich wollte einfach nur raus aus dem Lager“, sagt Sinai. Und so meldete er sich, als gefragt wurde, ob sich einer mit Pferden auskennen würde. Sinai hatte genau gar keinen Schimmer von Pferden. „Als ich sie einspannen sollte, aber nicht konnte, erklärte ich, dass wir in Wien ein anderes Zaumzeug hätten.“ Man half ihm, und er transportierte fünf Jahre lang Gemüse durch Kasachstan. Bei 35 Grad plus im Sommer, bei 35 Grad minus im Winter.
1947, nach einer zweimonatigen Fahrt in einem Viehwaggon, kam Erich Sinai zurück nach Wien. 15 seiner Verwandten waren umgebracht worden, sein einziger Anknüpfungspunkt in der großen Stadt hieß Hakoah. Unmittelbar nach dem Krieg war der Verein neu gegründet worden. Man traf sich auf Sportplätzen, man traf sich auch zu Trainingslagern auf der guten, alten Hütte am Semmering, die allein der Hakoah geblieben war. Kein Warmwasser, keine Heizung, dafür direkt unterhalb eine russische Kommandantur. „Wir haben Volleyball gespielt“, erzählt Sinai, „und nach jedem zweiten Schlag ist der Ball hinunter zu den Russen gerollt. Aber die waren sehr nett zu uns.“
Kitty Löwy, sechs Jahre jünger als Erich, überlebte den Krieg trotz schwerer Zwangsarbeit und der ständigen Angst, in ein KZ deportiert zu werden. In der Hansestadt Stendal leistete sie Landwirtschaftshilfe, im thüringischen Nordhausen arbeitete sie in einer Kautabakfabrik. Auf der Hakoah-Hütte am Semmering führte sie gemeinsam mit zwei anderen Mädchen die Küche, wobei Küche eher relativ ist, die Lebensmittel stammten vor allem aus CARE- Paketen, es gab meist nur Polenta. „Aber egal“, erinnert sich Kitty. „Wir waren viele junge Leute, wir hatten schreckliche Erlebnisse hinter uns. Und wir haben versucht, uns physisch und psychisch zu erholen.“ Beim Volleyballspielen vor der Hütte ist ihr dann ein junger Mann aufgefallen. „Der war kein Bürscherl mehr wie alle anderen, und er war der beste Volleyballer.“
Seit 64 Jahren also sind Erich und Kitty ein Paar, seit 61 Jahren sind sie verheiratet. Der Sport hat sie stets begleitet, und sie begleiteten die Hakoah. Erich Sinai kann sich noch gut an die Makkabiade 1950 erinnern, es war seine erste, sieben weitere sollten folgen. Knapp zwanzig Österreicher fuhren nach Israel, sie wohnten in einem Zeltlager direkt am Meer. Die Handballer waren, sagt Sinai, „ein bunt zusammengewürfeltes Team“. Das erste Spiel gegen Schweden ging hoch verloren, „ich glaube, mit zwei zu zwanzig. Aber es war schön dabeizusein.“
Kitty Sinai, die in ihrer Jugend eine gute Schwimmerin gewesen war, stellte ihre sportlichen Ambitionen hintan. Dafür spielte Erich später sogar Wasserball. „In den Teamsportarten haben uns immer die Leute gefehlt“, sagt er, „und der Ball ist ja immer rund, im Handball wie im Wasserball.“ Dennoch wechselte er bald wieder zurück zur Handballmannschaft der Hakoah, der er viele Jahre angehörte.
Erich Sinai leitete eine Bekleidungsunternehmen mit zeitweise mehr als hundert Mitarbeitern, und für die Hakoah engagierte er sich bald auch auf Funktionärsebene. Schon Ende der 50er wurde er ihr Präsident, er blieb es dreißig Jahre lang. „Die Hakoah war immer unsere Familie“, sagt Kitty. Doch auch die Familie Sinai wurde größer, zuerst kam Fred, dann kam Ronald auf die Welt. Der Sport blieb bis heute das bestimmende Thema. Vater Erich führte die Delegationen bei den Makkabiaden an, Fred entpuppte sich als guter Schwimmer, Ronald spielte und spielt noch immer ausgezeichnet Tennis. „Eigentlich bin ich eher ein bequemer Mensch“, sagt Ronald. „Aber bei solchen Eltern mussten wir einfach sportlich werden.“
Auch Fred und Ronald verbuchten mehrere Makkabiade-Teilnahmen. Ronald kann sich erinnern, dass er in den 80ern einmal in der ersten Runde gegen den Israeli Amos Mansdorf spielte. Amos Mansdorf war wenig später die Nummer 18 der Tenniswelt. Ronald Sinai war einmal Wiener Juniorenmeister gewesen. „Ich hab in diesem Match die ersten drei Punkte gemacht“, weiß Ronald noch, „und danach nicht mehr wirklich viele. Aber es war ein unvergessliches Erlebnis, gegen einen Weltklassespieler anzutreten.“ Bei einer anderen Makkabiade holte Ronald Sinai immerhin Gold im Mixed- und Bronze im Solo-Bewerb.
Fred wiederum denkt manchmal an eine Begegnung mit Mark Spitz zurück, der seit kurzem übrigens Ehrenmitglied der Hakoah ist. 1969 bei der Makkabiade in Israel kreuzten sich ihre Wege, nicht bei den Schwimmbewerben, sondern im Wasserball. Es war allerdings nur ein kurzer Abstecher von Spitz, drei Jahre später in München sollte er siebenfaches olympisches Gold erschwimmen. Bei einem Treffen in Wien 2009 von Fred auf seinen Wasserballeinsatz angesprochen, lachte Spitz und sagte: „I did it never again.“
Fred Sinai und Ronald Sinai machten ebenfalls Karriere, wenn auch nicht als Weltstars im Sport. Ronald, heute 51 Jahre alt, führt die Geschäfte einer Klosterneuburger Druckerei, die auch Broschüren für die Hakoah druckt. Selbstverständlich spielt er regelmäßig und ausgezeichnet Tennis, und seine zwei sportlichen Söhne sind auch schon 22 und 20 Jahre alt. Fred (58) holte noch 2008 in der sogenannten Masters-Klasse den Staatsmeistertitel über 50-m-Delfin. Er ist dem Sport auch beruflich eng verbunden, als Finanzreferent des Vereins S.C. Hakoah, vor allem aber als Controller und Buchhalter im Sportzentrum Hakoah.
Dass dieses Sportzentrum 2008 eröffnet wurde, nachdem ein Teil des ursprünglichen Hakoah-Geländes im Wiener Prater restituiert worden war, ist auch für die Sinais die Basis dafür, dass die Makkabiade nun in Wien stattfinden kann. Erich Sinai wird bei der feierlichen Eröffnung der Spiele als Fahnenträger fungieren, Fred wird in fünf Bewerben schwimmen, Ronald wird solo und im Doppel Tennis spielen, Kitty wird zusehen und Daumen drücken. Keiner der Sinais, davon ist nach jüngsten Informationen jedenfalls auszugehen, wird Wasserball spielen.
„Die Makkabiade ist ein gesellschaftliches Ereignis“, sagt Erich Sinai. „Ein Treffen jüdischer Sportler aus aller Welt.“ Es geht nicht in erster Linie um Erfolge, es geht ums Dabeisein. Makkabiade ist, wo der olympische Gedanke noch hochgehalten wird. So gesehen ist es ganz egal, ob sich zur Sinai’schen Trophäensammlung ein weiterer Pokal gesellt. Für das eine oder andere Foto ist noch Platz an der Wand. Unten im Hakoah-Raum, oben in Weidling.