Unter den tausenden Österreicherinnen und Österreichern, die in Lateinamerika Zuflucht fanden, waren auch Miriam Rothbacher und die Familie von Arnold Pollak. Pollak wurde im bolivianischen Exil geboren, Miriam Rothbacher kam als vierjähriges Kind nach Bolivien – beide kehrten aus unterschiedlichen Motiven nach Europa zurück.
Von Katharina Stourzh und Danielle Spera
Man bleibt immer ein Außenseiter“ resümiert Arnold Pollak auch 70 Jahre nach seiner Rückkehr aus Bolivien und einer glanzvollen Karriere als Spitzenmediziner in Wien, als Mitbegründer und Senatsvorsitzender der Meduni Wien und langjähriger Vorstand der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde. Als zehnjähriger Bub kam er 1955 mit seinen Eltern und seinen zwei jüngeren Schwestern aus Bolivien zurück.
Seinem Vater war es – wie, darüber wurde in der Familie nie gesprochen – 1937 gelungen, alleine nach Bolivien zu gelangen und ein Jahr später „in letzter Minute“ seine Eltern nachzuholen. Wahrscheinlich verdankt die Familie diese Rettung auch dem Zinnbaron Moritz Hochschild. Selbst Jude war er bereits Anfang der 1920er Jahre aus Deutschland ausgewandert, um in Bolivien ein Bergbauimperium aufzubauen. Er galt als schillernder und nicht unumstrittener Geschäftsmann, hatte allerdings auch eine andere Seite. Durch seine Entschlossenheit und Courage rettete er insgesamt bis zu 22.000 Jüdinnen und Juden. Die Dimension seiner Rettungsaktion wurde erst in den 2000er Jahren zufällig vom Archivar der 1952 verstaatlichten Bergbaugesellschaft COMIBOL entdeckt. Bolivien war jenes Land, das noch Juden aufnahm, als alle anderen – auch Shanghai und Kuba – ihre Grenzen schon geschlossen hatten. Hochschild setzte sich auf Grund seiner guten Bekanntschaft mit Präsident German Busch dafür ein, Juden ins Land zu holen, mit der formellen Argumentation, dass diese dann auch beim Aufbau des Landes – man dachte vor allem an die Landwirtschaft – helfen könnten. Tatsächlich waren wohl kaum Landwirte dabei, sondern es kamen vor allem Intellektuelle und Akademiker ins Land. Für sie alle übernahm Hochschild die Reisekosten, organisierte ihre Ankunft und den Neubeginn, finanzierte schulische Einrichtungen und medizinische Versorgung.
Aus der Novaragasse nach Cochabamba und zurück
Mit seiner späteren Frau, einer aus Deutschland emigrierten Jüdin ließ sich Emilio Pollak schließlich in Cochabamba nieder, konnte dort einen Tuchhandel aufbauen und schließlich das Stoff- und Kleidergeschäft „Rio de la Plata“ eröffnen. Für Arnold Pollak war es eine „wunderbare Kindheit“ in seiner Geburtsstadt, die wegen ihrer milden Temperaturen „Stadt des ewigen Frühlings“ genannt wurde. Der Club Austriaco war täglicher Treffpunkt. Die jüdische Gemeinde baute außerdem eine Synagoge „ähnlich jener in der Seitenstettengasse“. Seine Eltern waren säkular geprägt, aber die Hohen Feiertage Rosh Hashana und Yom Kippur und Feste wie Pessach, Chanukka und Purim wurden immer begangen.
Für seine Eltern stand die Rückkehr nach Europa bzw. nach Wien außer Frage – zu sehr vermisste Emilio Pollak die Wiener Caféhauskultur, Musik, Theater und Oper. Er war bereit, dafür in Wien erneut eine Existenz aufzubauen. Für Arnold Pollak, der mit seiner älteren Schwester ins Mädcheninternat geschickt wurde, war diese Rückkehr eine Zäsur; „todunglücklich“ sprach er aus Protest ein Jahr lang nicht Deutsch. Auch wenn es in Bolivien Antisemitismus gab, wurde Arnold Pollak erst in Wien direkt damit konfrontiert – in der Schule, im Studium und auch später im Berufsleben. Versteckter und offener Antisemitismus – von Beschimpfungen bis hin zur Frage, wieso man überhaupt zurückgekommen sei, sowie viele andere Anfeindungen und Benachteiligungen – waren stets präsent. Arnold Pollaks Vater verstarb 1963, nach nur acht, aber umso intensiveren Jahren in Wien, die er nicht nur dem Aufbau einer neuen familiären Existenz widmete, sondern auch – in tiefer Dankbarkeit gegenüber Bolivien – als Generalkonsul Boliviens. Er wollte dem Land, das ihn und seine Familie aufgenommen und damit gerettet hatte, etwas zurückgeben. Auch Arnold Pollak blickt dankbar zurück und hat noch Kontakt zu Freunden in Cochabamba, die das Grab seiner Großeltern pflegen.
La Paz als erste Heimat
Miriam Rothbacher, die mit ihrer Familie 1939 aus Berlin über Schweden nach Bolivien einwanderte, ist mit Bolivien immer noch sehr eng verbunden, „Für mich ist Bolivien Heimat – und Österreich auch“. Zuletzt war sie vor drei Jahren in Bolivien, um die von ihrem Vater – einem Philologen und Lehrer – gegründete Schule, die mittlerweile ein Gymnasium ist, in Sucre zu besuchen.
Ihr Vater, der 1934 zwangspensioniert wurde, konnte über eine Cousine in Bolivien, deren Mann als Ingenieur im Bergbau arbeitete, Visa organisieren. Auch hier fällt der Name von Moritz Hochschild. Die methodistische Gemeinde, in der die Familie der Cousine ihres Vaters integriert war, nahm sie auf. In La Paz konnte ihr Vater in der amerikanischen Schule arbeiten, die auch sie besuchte, denn die deutsche Schule hatte es abgelehnt, ihn als Lehrer zu beschäftigen – „da er ein J im Pass hatte“. Als Kind habe sie allerdings keinen Antisemitismus erlebt. Rothbacher wäre auch lieber in Bolivien geblieben – sie hat „nie wirklich verstanden“, warum ihr Vater sie zur Beendigung ihres Medizinstudiums nach Heidelberg schickte, sie konnte dort auch nie Fuß fassen. Nach ihrer Rückkehr in den frühen Fünfzigerjahren musste sie in Deutschland „schrecklichen Antisemitismus“ erleben – so wollte man ihr zunächst trotz Vorlage aller Dokumente nicht glauben, dass sie als Kind nach Bolivien flüchten musste. Sie habe Deutschland „schlecht ertragen“ und daher das eigentlich zufällige Angebot, in Wien im St. Anna Kinderspital zu arbeiten, angenommen. Später eröffnete sie in Wien eine Ordination als Kinderärztin und engagierte sich in ihrer Pension in Schul- und Bildungsprojekten für indigene Kinder, die sie in einem von ihr gegründeten Verein initiierte.
Zurück blicken beide – Miriam Rothbacher und Arnold Pollak – in Dankbarkeit für die Aufnahme ihrer Familie in einem weit entfernten Land.
