Der rumänische Landkreis Satu Mare (deutsch Sathmar) beherbergt eine wechselvolle jüdische Vergangenheit, mehr jüdische Friedhöfe als Mitglieder in der Gemeinde und eine große Synagoge, in der gerade ein Museum eingerichtet wird. Bis zur Eröffnung probt hier noch der katholische Kirchenchor.
Von Eva Konzett (Text und Fotos)
Der Flügelschlag bricht die Ruhe innerhalb der sakralen Gemäuer. Eine Taube hat Eingang in die Synagoge gefunden. Vielleicht haben die beiden Besucherinnen aus Ungarn die Eingangspforte nicht geschlossen, oder die Frauen der Gemeinde haben die Fenster zum Lüften geöffnet, vielleicht hat auch die Zeit dem Dach ein taubengroßes Loch zugefügt, durch welches das schwarzweiße Tier in den Innenraum geraten konnte. Es flattert aufgeregt zwischen den beiden Seiten des ehemaligen Frauenbalkons hin und her, bis es in einer staubigen Ecke Ruhe findet.
Die große orthodoxe Synagoge im rumänischen Satu Mare, dem kleinen Städtchen, das der Welt außerhalb des Landes eher unter der deutschen Bezeichnung Sathmar bekannt ist, feiert in diesem Sommer den 120. Geburtstag. Ihrer Schwester blieb ein solches Alter verwehrt. Das Gotteshaus des liberalen Flügels, Anfang des 20. Jahrhunderts erbaut, ging 1965 in den Betonmauern des sozialistischen Polizeiinspektorates unter. Und die zahlreichen Bethäuser von Satu Mare sind, sofern sie niemand abgerissen hat, längst ihrem eigentlichen Zweck entfremdet und nicht mehr als Sakralbauten erkennbar. In der alten Synagoge aber, die der Denkmalschutz, wenn auch nicht vor den die Wände langsam durchdringenden Witterungsschäden, so doch von der unmittelbaren Zerstörungskraft der Planierraupen schützt, soll das jüdische Leben der Gemeinde von Satu Mare wieder auferstehen, so der Plan von Nicolae Decsei, dem Präsidenten der örtlichen Gemeinde. Er errichtet hier gerade ein Museum, das vom Leben der einst bedeutenden jüdischen Bevölkerung in diesem Städtchen im geschichtlichen Dreiländereck zwischen dem Galizien der Monarchie, dem Ungarn der Pfeilkreuzler und dem sozialistischen rumänischen Nachkriegsregime berichten soll. Die Mitglieder selbst können ihre Geschichte kaum mehr erzählen. Satu Mare gehörte ab 1940 wieder zu jenem Land, dem das Städtchen durch den Vertrag von Trianon nach dem Ersten Weltkrieg genommen wurde: Ungarn. Die jüdische Gemeinde der Stadt wurde 1944 beinahe vollzählig nach Auschwitz deportiert.
Neues Leben für den Frauenbalkon
„Das Museum muss vorbereitet werden, aber wir haben kein Geld“, sagt Decsei und steigt von einem Fuß auf den anderen. Beim Anblick des Gebäudezustandes ist es eigentlich unnötig, fehlende finanzielle Mittel zu erwähnen. Rumänien ist insgesamt nicht reich, die jüdische Gemeinde in Satu Mare ist es noch weniger. Doch Decsei hat es sich in den Kopf gesetzt, das Museum zu eröffnen. „Es soll zwei Bereiche geben – nein, eigentlich drei“, erklärt er. So wird das ehemalige Gotteshaus künftig eine Dauerausstellung beherbergen, die dem Alltag der hiesigen Juden folgt. Decseis Wunsch ist es auch, eine eigene kleine Ausstellung den Ermordeten zu widmen. Schließlich lebten vor dem Zweiten Weltkrieg alleine in der Stadt Satu Mare 13.000 Juden. Das entsprach einem Viertel der Bevölkerung. Im gleichnamigen Landkreis waren es knapp 20.000 Juden. Ab dem 18. Jahrhundert in mehreren Wellen vorwiegend aus dem slawischen Osten eingewandert, bildeten sie eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinschaften im Karpatenraum. Heute hat die Gemeinde noch insgesamt 102 Mitglieder.
Um flexibel agieren zu können und auch Menschen anzuziehen, die vielleicht noch nie einen Fuß in eine Synagoge gesetzt haben, hat der Präsident zusätzlich Raum für Wechselausstellungen geschaffen. Seit zwei Jahren wird das frühere Gotteshaus mit Kunstereignissen bespielt – auf frisch gelegtem Parkett und mit entsprechender Lichtinstallation auf der linken Seite des ehemaligen Frauenbalkons. Gegenüber soll die Dauerausstellung aufgebaut werden. Nur die Bänke in der Mitte möchte Decsei erhalten. „Die Leute müssen sehen können, wie es hier früher ausgesehen hat“, kommentiert er.
An den Kartonwänden sind noch die Namen der Fotografen, deren Bilder jüngst gezeigt wurden, zu lesen. Säuberlich wurden die Werke der Ferenc’, Csongors, Andras’ und Istvans mit Namensschildchen gekennzeichnet – einzeln mit bunten Stecknadeln angebracht. Satu Mare ist in all den Jahrzehnten nie ganz rumänisch geworden, ähnlich wie auch viele andere Ortschaften in Siebenbürgen. Auf der Straße tratschen die Blumenverkäuferinnen selbstverständlich auf Ungarisch, der Bäcker fragt erst gar nicht auf Rumänisch, was dem Kunden beliebt. Und Präsident Decsei entschuldigt sich kurz, das Telefon klingelt schon wieder: „Szia, igen“, antwortet er fröhlich, um dann in dieser Sprache fortzufahren – obwohl er selbst gar nicht in Siebenbürgen geboren ist. Auch nicht in Satu Mare. Die Liebe hat ihn hierher gebracht. „Und ich bin geblieben“, lacht der Präsident. Als Vorsitzender der jüdischen Gemeinde hat er nicht nur die Obsorge für die große Synagoge, sondern auch für das kleine kanariengelbe Bethaus übernommen, das Mitglieder kurz nach der Jahrhundertwende direkt neben die Synagoge bauten. Warum beide nebeneinander stehen? „Es gab hier halt viele Juden“, so die einfache Antwort. Die große Synagoge, die gegenwärtig keine Thorarollen mehr beherbergt und unter deren Dach das Museum geschaffen wird, wurde vorrangig an Festtagen genutzt. Zum gewöhnlichen Gebet fand sich der orthodoxe Teil der Gemeinde im Bethaus daneben ein. Noch heute feiern die gläubigen Juden hier im Vorzimmer ihren Gottesdienst. Der Hauptraum muss bereits von einem kunstvollen Holzgerüst gehalten werden – das Dach droht einzustürzen. Seit dem 19. Mai 1944, dem Tag der Deportation, wurde hier nichts mehr verändert.
Doch Decsei will nicht über die Toten sprechen, derer die Gemeinde zwischen den Gotteshäusern mit einem Marmorstein gedenkt. „Es hat doch keinen Sinn, nach hinten zu schauen“, denkt er laut nach. Viel lieber wolle er ein Fest organisieren. Im Juni, wenn die große Synagoge ihren Jahrestag feiert. Zu diesem Anlass lädt die jüdische Gemeinde die lokalen Größen und natürlich die Bevölkerung von Satu Mare in die Synagoge ein. Eine eigene Ausstellung rund um das Gotteshaus und dessen Geschichte wird gestaltet. Die Festveranstaltungen werden dieses auch endlich wieder mit Menschen füllen – der Zustand, in dem Nicolae Decsei die Synagoge am liebsten sieht. „Es ist doch schade, sie nur leer dastehen zu lassen“, meint er. Auch aus diesem Grund kann das Gebäude als Veranstaltungssaal gemietet werden. Kammermusik- und Jazzkonzerte haben so bereits an jenem Platz stattgefunden, wo früher Gläubige gebetet haben.
Der klaren Akustik in der Synagoge ist das einerlei. Sie unterstützt jegliche Art von Klang – auch die Lieder des katholischen Kirchenchors, der wöchentlich vor dem ehemaligen Thoraschrein probt. Am schönsten klinge hier aber die Klezmer-Musik, so Decsei. Schöner ginge es eigentlich nicht, seufzt er.
Ob auch Gäste aus New York zum Fest anreisen? Fragen nach den Glaubensbrüdern aus den Vereinigten Staaten bereiten dem Präsidenten augenscheinlich Unbehagen. Er kratzt sich ausweichend am Schnauzer. Natürlich kennt er die Geschichte des Rabbiners Joel Teitelbaum, der in den 30er-Jahren Rebbe in Satu Mare geworden war und nach seiner Emigration im New York Stadtteil Williamsburg eine ultra- orthodoxe chassidische Gemeinde gründete, die bis heute unter der Bezeichnung Satmar-Chassidim besteht. Aber das betreffe hier in Satu Mare eigentlich niemanden, sagt er. „Manchmal kommen Leute aus Amerika. Sie schauen sich um, flanieren ein bisschen, besuchen den Friedhof und gehen wieder. Wir haben keine wirkliche Beziehung zu ihnen, sie halten uns ja nicht für Juden“, führt Decsei aus. Die Figur des Rabbiners Teitelbaum selbst werde hier in der Stadt zwiespältig gesehen. So hat ihm mancher nicht verziehen, 1944 mit dem berühmten Kasztner-Zug in die Schweiz und mit dem Leben davongekommen zu sein. Decsei selbst möchte sich über die Person Teitelbaum kein Urteil bilden, die Gäste aus Williamsburg und Kiryas Joel (eine Kleinstadt nahe Monroe im Bundesstaat New York, die von Rebbe Teitelbaum für seine Anhänger gegründet wurde) sieht er aber kritisch: „Im Grunde sind das Fundamentalisten.“
Die Orte bleiben
Einer von ihnen steht rauchend vor dem Hotel Aurora am Hauptplatz von Satu Mare. Der Betonklotz wirkt in seinem übertriebenen Format mit abblätternder Aufschrift merkwürdig deplatziert – ein unüberwindbares Erbe des Sozialismus. Auch der Mann davor gehört eigentlich nicht mehr hierher, wie er nach einigen Zügen an seiner Zigarette – wenn auch zaghaft – sagt. Wie alt wird er wohl sein? Sein Bart ist längst vergilbt, der Körper schon etwas in sich zusammengesunken, zwei Hosenträger bewahren den schwarzen Anzugstoff vor dem Hinabgleiten. „Ich bin hier geboren“, murmelt er, nachdem er den Rauch tief in seine Lungen gezogen hat. Seine Familie sei aber noch vor dem Krieg emigriert. Heute lebt er in Kiryas Joel. Die Frage nach einem Arbeitsplatz bei B&H, dem von Satmar-Juden geführten Fotografiegeschäft in New York, lässt seine anfängliche Distanz deutlich schwinden. „Nein“, sagt er anerkennend. Er habe seinen Lebtag lang in einem Heim für behinderte Kinder gearbeitet. Seit er denken könne, ziehe es ihn aber einmal im Jahr nach Satu Mare zurück.
Satu Mare: Im gleichnamigen Landkreis werden heute noch mehr als 100 jüdische Friedhöfe gezählt. Mittlerweile gibt es mehr Friedhöfe als Mitglieder in der jüdischen Gemeinde. Wer nicht in der Zwischenkriegszeit auswanderte und die Deportation überlebte, emigrierte in den 60er-Jahren nach Israel.
„Wissen Sie, warum ich immer wieder zurückkehren muss?“ fragt der Alte schließlich. Er klemmt den Zigarettenfilter zwischen Zeige- und Mittelfilter und schnippt ihn auf die Straße. „Ich komme hierher zurück, weil es in New York keine Geschichte gibt. Die Geschichte ist in Europa geblieben.“ Er zögert: „Nur die dazugehörenden Menschen nicht.“