In der Ersten Republik gab es bedeutende jüdische Politiker, vor allem in den Reihen der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, aber nur wenige identifizierten sich vorrangig mit dem Judentum, unter dem Motto: Ideologie vor Herkunft.
Von Gerhard Jelinek
Robert Stricker wurde enttäuscht. Bei der ersten Wahl zum Nationalrat im Oktober 1920 nach Beschlussfassung der republikanischen Verfassung verfehlte der Ingenieur und Zionist mit seiner Jüdischnationalen Partei den Einzug ins Parlament. Im Wahlkreis Niederösterreich Nordost, zu dem der Wiener Bezirk Leopoldstadt damals gehörte, stimmten rund 10.000 Wählerinnen und Wähler für die Liste des nationaljüdischen Vorstandsmitglieds der Israelitischen Kultusgemeinde – zu wenige für ein notwendiges Grundmandat. Nur eine Minderheit der Wiener Jüdinnen und Juden wählte die deklariert jüdische Liste.
Bei den vorangegangenen allgemeinen Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung der Republik Deutschösterreich im Februar 1919 konnte Stricker noch vom Mehrheitswahlrecht profitieren und wurde als einer von 200 Abgeordneten direkt ins Parlament gewählt. Der jüdischnationale Abgeordnete kämpfte später vergeblich für die Anerkennung der 200.000 Wiener Juden als eigenständigen „Volksstamm“ und stimmte als einziger gegen einen Anschluss „Deutschösterreichs“ ans Deutsche Reich.
Robert Stricker war in Wien, das sich im Gefolge der Ideen von Theodor Herzl zu einem Zentrum des internationalen Zionismus entwickelt hatte, ein einflussreicher Politiker. Der frühere Bahnbedienstete und spätere Unternehmer wurde schon 1912 in den Vorstand der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde aufgenommen und beim XI. Zionistischen Weltkongress in Wien in das „Große Aktionskomitee“ gewählt.
Sozialdemokratie als Hoffnung
Zum Feindbild Strickers und seiner jüdischnationalen Partei wurde der Rechtsanwalt Rudolf Schwarz-Hiller. Der Anwalt und Militärverteidiger war eine der prononciertesten politischen Persönlichkeiten zu Beginn der Ersten Republik. Er kandidierte für die Liberalen und wirkte von 1910 bis 1918 als Mitglied des Wiener Gemeinderates. 1920 kandidierte er für die Liberalen im zweiten Bezirk. Das Zentralorgan der Zionisten, die Wiener Morgenzeitung, beklagte nach dem Wahlsonntag das Ergebnis: „Es ist erreicht: Das jüdische Mandat in der Leopoldstadt ist den Christlichsozialen in die Hände gefallen. Die innerhalb der zur Aufbringung der Wahlziffer nötigen Stimmen hat die Kandidatur von Schwarz-Hiller gemeinsam mit den jüdischen Kommunisten dem Judentum entrissen und seinen Todfeinden zugetrieben.“
Die mehr als 200.000 jüdischen Wählerinnen und Wähler entschieden nicht nach religiöser Zugehörigkeit. Und die Morgenpost analysierte: „An die 50.000 jüdische Stimmen sind im Wahlkreis Nordost der antijüdischen Sozialdemokratie zugefallen, viele Juden haben aber auch für die Christlichsozialen gestimmt.“
In der Konstituierenden Nationalversammlung 1919/20 war der Anteil von Abgeordneten jüdischer Herkunft aufgrund der Zuwächse der sozialdemokratischen Mandate und den acht weiblichen Abgeordneten relativ hoch. In den 1920er Jahren waren – mit einer Ausnahme – alle jüdischen Abgeordneten in den Reihen der Sozialdemokraten zu finden. Die prominentesten unter ihnen waren Otto Bauer, Robert Danneberg und Julius Deutsch. Angesichts des deklarierten Antisemitismus der deutschnationalen Parteien und des ebenso lauten Antisemitismus in der Tradition eines Karl Lueger bei den Christlichsozialen blieb jüdischen Politikern kaum eine andere Wahl, als sich bei den Sozialdemokraten zu engagieren. Von den zwanzig Mitgliedern des sozialdemokratischen Parteivorstands bekannten sich zwei zum „mosaischen“ Glauben: Otto Bauer und Berthold König (1875–1954), ein Eisenbahngewerkschafter. Fünf waren als „konfessionslos“ registriert (darunter Robert Danneberg und Wilhelm Ellenbogen).
Wohlhabender Protestant, selige Katholikin
Der charismatische Gründer der Arbeiterbewegung, der Arzt Victor Adler (1852–1918), war ein klassischer Vertreter des akkulturierten Wiener jüdischen Großbürgers. Er stammte aus einer wohlhabenden Prager Kaufmannsfamilie und war vermögender Hausbesitzer. Schon in den 1890er Jahren konvertierte er zum Protestantismus. Seine Frau Emma wurde – übrigens ein Kuriosum der Geschichte – vom Maler Emanuel Oberhauser für die Pfarrkirche von Nußdorf am Attersee als Jungfrau Maria porträtiert. Adler war ursprünglich ein Anhänger der Deutschnationalen Bewegung von Georg von Schönerer. Der erstarkende Antisemitismus dieser Gruppierung führte dazu, dass Adler sich der Arbeiterbewegung zuwandte, sein Vermögen in die Entwicklung der Partei und die Gründung der Arbeiterzeitung investierte und schließlich zum Einiger der österreichischen Sozialdemokratie wurde. Als Politiker der Ersten Republik war Adler nur wenige Stunden tätig: In seiner letzten Rede im Staatsrat am 9. November 1918 plädierte er noch einmal für den Anschluss von Deutsch-Österreich an das Deutsche Reich und starb zwei Tage später, am Vorabend der Republiksgründung.
Die christlichsoziale Politikerin Hildegard Lea Burjan, geb. Freund (1883–1933), stammte aus einer jüdisch-liberalen Kaufmannsfamilie in Görlitz, studierte in Zürich und Berlin Literatur, Philosophie und Sozialwissenschaften und heiratete den Generaldirektor der Österreichischen Telefonfabrik AG. Als 26-jährige erkrankte sie schwer und wurde monatelang in einem katholischen Ordensspital gepflegt. Nachdem sie ihre schwere Nierenerkrankung überlebt hatte, konvertierte Burjan zum katholischen Glauben. Im Vorkriegswien engagierte sie sich für die arbeitenden Frauen. Sie gründete den „Verband Christlicher Heimarbeiterinnen“, kämpfte für Mindestlöhne und finanzielle Unterstützung lediger Mütter, leitete eine Vielzahl weiterer Hilfsvereine und entwickelte sich zu einer engagierten und aktiven Sozialpolitikerin. 1919 gründete sie zur Verwirklichung ihrer sozialen Ziele eine katholische Schwesternschaft, die „Caritas socialis“. In der jungen Republik wurde die nunmehrige katholische Frauenpolitikerin Abgeordnete der Christlichsozialen Partei in der provisorischen Nationalversammlung und organisierte den ersten „christlichen Arbeiterkongress“. Als einzige Frau ihrer Fraktion im Parlament wurde sie in den 1920er Jahren zu einer engen Vertrauten und später Mitarbeiterin des damaligen christlichsozialen Bundeskanzlers Ignaz Seipel. Knapp achtzig Jahre nach ihrem Tod wurde Hildegard Burjan, als einzige Politikerin der Ersten Republik, 2012 von Papst Benedikt XVI. seliggesprochen.
Burjans Gegenüber in der Sozialdemokratie war Therese Schlesinger, geb. Eckstein (1863–1940). Auch sie stammte aus einer freisinnig jüdischen Fabrikantenfamilie und engagierte sich als Fabrikdirektorin für die Verbesserung der Lebensumstände ihrer Mitarbeiterinnen. Sie ließ eine der ersten Wiener Schulküchen einrichten und stand an zumindest einem Wochentag selbst in der Küche. Über die bürgerliche Frauenbewegung und ihr Engagement im „Allgemeinen Österreichischen Frauenverein“ gelangte Schlesinger zur Sozialdemokratie. Sie zog wie Burjan als eine von acht Frauen in den ersten gewählten Nationalrat ein. Ihr erster Antrag forderte die Zulassung weiblicher Schülerinnen zu allen Unterrichtsanstalten der jungen Republik.
„Drei-Tage Juden“
Eine politisch herausragende Position unter den jüdischen Politikern nahm der Sozialdemokrat Otto Bauer (1881–1938) ein. Bauer stammte ebenfalls aus einer vermögenden jüdisch-liberalen Familie, war von 1918 bis 1934 durchgehend stellvertretender Parteivorsitzender der sozialdemokratischen Arbeiterpartei SDAP und der führende Theoretiker des Austromarxismus in der Zwischenkriegszeit. Das klassenkämpferische Linzer Programm der Sozialdemokratie von 1926 trägt seine Handschrift. Trotz seiner jüdischen Herkunft blieb Bauer bis an sein Lebensende ein engagierter Befürworter eines „Anschlusses“ Österreichs ans Deutsche Reich und definierte sich als Deutscher in Österreich. Wie viele andere Intellektuelle seiner Zeit wuchs Bauer in einer assimilierten Familie auf, die ironisch als „Drei-Tage-Juden“ bezeichnet wurden, weil sie nur an hohen Feiertagen die Synagoge besuchten: „Während unsere Großväter gläubige Männer waren, sind wir ungläubig“, schrieb Otto Bauer. Im Gegensatz zu Victor Adler konvertierte Otto Bauer aber nicht zum Christentum, er blieb Mitglied der Kultusgemeinde. Seine jüdische Identität wurde für ihn zur Demonstration gegen den allgegenwärtigen Antisemitismus.
Bauers internationalistische Position führte zu Zerwürfnissen mit den Zionisten und jüdischen Nationalisten. Für ihn und sein ideologisches Fundament hatte dieser Konflikt aber nur geringe Bedeutung. Er sah sich in erster Linie als internationaler Sozialdemokrat. Der Politikwissenschaftler Anton Pelinka analysierte in einem Beitrag für die Zeitschrift Österreichische Zeitgeschichte das ambivalente Verhältnis der Sozialdemokratie zu Antisemitismus und zur jüdischen Identität: „Die Einstellung der Sozialdemokratie zum Antisemitismus war auch geprägt von der Neigung vieler Sozialisten jüdischer Herkunft, sich ihrer antisemitischen Umwelt im Übermaß anzupassen.“
Als austromarxistischer Chefideologe reagierte Otto Bauer auf zunehmenden Druck auf die Sozialdemokratie durch die Christlichsozialen, die Heimwehr-Verbände und den radikalen Antisemitismus der Nationalsozialisten durch Betonung seiner jüdischen Identität. Wenige Stunden nach Beginn des Februaraufstands des sozialistischen Schutzbundes flüchtete Bauer im März 1934 nach Brünn und später nach Paris, wo er auch starb.
Flucht ins Exil
Durch die Installierung eines autoritären Ständestaats auf „christlich-deutscher Grundlage“ und des Verbots aller Parteien wurde das System einer parlamentarischen Demokratie ausgehebelt. Die Maiverfassung 1934, die von der Dollfuß-Regierung erlassen wurde, garantierte Jüdinnen und Juden Religionsfreiheit und alle bürgerlichen Rechte. Dollfuß berief prominente Juden, wie den Juristen und Präsidenten der IKG, Desider Friedmann (1880–1944), in den „Staatsrat“ und Salomon Frankfurter (1856–1941) in den „Bundeskulturrat“. Diese pseudorepräsentativen Beratungsgremien waren jedoch politisch weitgehend bedeutungslos. Mit der Vertreibung und Ermordung Tausender jüdischer Österreicherinnen und Österreicher nach dem „Anschluss“ am 12. März 1938 durch die Nationalsozialisten fanden fast einhundert Jahre jüdischer Beiträge im, an und für ein parlamentarisches System ein Ende.
Viele jüdische Abgeordnete flüchteten ins Exil. Robert Danneberg (1885–1942), der die ideologischen Fundamente für den sozialen Wohnbau des „Roten Wien“ legte, wurde wenige Stunden nach dem Einmarsch der deutschen Truppen – bereits auf tschechoslowakischem Staatsgebiet – von tschechischen Grenzbeamten zur Rückreise nach Wien gezwungen, von der Gestapo verhaftet und 1942 in Ausschwitz ermordet. Desider Friedmann traf das gleiche Schicksal. Auch er wurde zwei Jahre später in Ausschwitz getötet.