Im zweiten Teil seiner „Erinnerungen an ganz normale jüdische Genies“ schreibt der bekannte Schriftsteller und Zeitungskolumnist über Begegnungen mit Gerhard Bronner, Frederic Morton, Hugo Wiener, Friedrich Hacker, Marta Eggerth – und noch einmal über Billy Wilder, Karl Farkas und Marcel Prawy.
Von Georg Markus
Vor Jahren freundete ich mich in der damaligen Broadway Pianobar am Wiener Bauernmarkt mit Gerhard Bronner an, der dort sein zweites Wohnzimmer aufgeschlagen hatte und sich fast jeden Abend ans Klavier setzte, um die Gäste mit seinen Kabarettklassikern zu erfreuen. In langen Nächten erzählte er mir aber auch aus seinem Leben und von den Menschen, denen er begegnet war. Einer von ihnen war der aus Wien stammende und in die USA emigrierte Schauspieler Hugo Haas, dernach dem Krieg in Los Angeles bei der deutschsprachigen Aufführung von Bert Brechts Schauspiel „Leben des Galilei“ die Rolle Papst Urbans VIII. spielte, der dem großen Mathematiker den Prozess machte. Dank seiner stattlichen Erscheinung – und ungeachtet seiner jüdischen Herkunft – war Hugo Haas von Publikum und Presse als respektabler Darsteller des Heiligen Vaters gewürdigt worden.
Jahre später lud Bronner den inzwischen heimgekehrten Hugo Haas ein, an seinem Kärntnertortheater – dem heute von uns allen so geliebten Stadttheater Walfischgasse – eine Rolle zu übernehmen. Auf die Frage, um welche Art von Rolle es sich handelte, erklärte Bronner, dass er einen jüdischen Journalisten spielen sollte. „Tut ma leid“, erwidere Hugo Hass in sehr jiddischem Tonfall. „Ich spiel nur Päpste!“
Wann immer Frederic Morton in Wien ist, genieße ich es, ihm beim Erzählen seiner Geschichten zuzuhören. Er kam hier 1924 als Fritz Mandelbaum zur Welt und zählt heute zu Amerikas führenden Schriftstellern und Essayisten. Seine Eltern, mit denen er 1939 in die Emigration gegangen war, erlebten die Gnade, ihren 70. Hochzeitstag feiern zu können, weshalb man damals in ihrer Wahlheimat Miami eine kleine Feier gab. Der 96 Jahre alte Herr stand auf, erhob sein Glas und sagte, nach sieben gemeinsam verbrachten Jahrzehnten, zu seiner 92-jährigen Frau: „Also, wenn ich gewusst hätte, wie lang unsere Ehe dauern wird, hätte ich mir das damals genauer überlegt!“ Irgendwann erklärte mir Fred Morton auch, warum die von den Exilösterreichern in New York vorrangig frequentierte 72. Straße im Volksmund „Cincinnati-Street“ genannt wurde: „Wann immer man dort eine Emigrantin aus Wien traf, wurde sie gefragt: ,Sind Sie net die …?´“
In der ersten „NU“-Folge meiner Begegnungen mit „ganz normalen jüdischen Genies“ habe ich erwähnt, was Billy Wilder mir aus seiner Schulzeit in Wien berichtete. Dazu fällt mir noch eine Geschichte ein, die einmal mehr beweist, wie sehr der gefeierte Hollywoodregisseur die Kunst der pointierten Erzählung beherrschte. Er sei wie jeder Mensch davon überzeugt, erklärte er mir, wesentlich jünger auszusehen als alle seine einstigen Schulkameraden. Das war die Einleitung zur eigentlichen Geschichte: „Als ich 1958 nach Wien kam, um hier meinen Film ‚Zeugin der Anklage‘ vorzustellen, wollte ich mich vor der Premiere im Sacher zum Mittagsschlaf niederlegen und bat an der Rezeption, unter keinen Umständen gestört zu werden. Nach zehn Minuten klingelte das Telefon, und der Portier sagte, da sei ein Schulfreund, der mich sprechen wollte. Was blieb mir anderes übrig, als ihn zu empfangen. Ein alter, sehr zerknittert aussehender Mann, den ich nicht erkannte, stand vor mir. Als ich ihn ein paar Mal höflichkeitshalber ‚Weißt du noch, wie wir damals …?‘ gefragt hatte, unterbrach mich der Greis und sagte: ,Entschuldigen Sie, Herr Wilder, das ist ein Missverständnis, nicht ich bin mit Ihnen zur Schule gegangen, sondern mein verstorbener Vater!‘“
Auch zu Karl Farkas, für den ich 1969/70 am Kabarett „Simpl“ arbeitete, fällt mir noch eine Geschichte ein: Fritz Grünbaum, sein kongenialer Doppelconférence-Partner aus der Zwischenkriegszeit, hatte einmal gemeinsam mit seinem Kabarettkollegen Paul Morgan den Auftrag erhalten, eine in Berlin laufende Komödie für ein Wiener Theater zu bearbeiten. Die beiden fuhren nach Berlin, um sich das dort erfolgreich laufende Boulevardstück anzusehen, doch nach wenigen Sätzen war ihnen klar, dass das Lustspiel in seiner Witz- und Geistlosigkeit für Wien vollkommen ungeeignet war. Grünbaum flüsterte Morgan während der Vorstellung ins Ohr: „Paul, ich halt das nicht länger aus, ich geh!“
„Das kannst du nicht machen“, erwiderte Morgan, „wir sind eingeladen, man kann nicht einfach weggehen, wenn man Freikarten hat!“
Grünbaum beugte sich diesem Argument, meldete sich aber nach weiteren fünf Minuten neuerlich zu Wort: „Ich ertrage diesen Schwachsinn nicht. Ich geh!“
Und wieder beschwichtigte Morgan: „Ich sag dir doch, das kannst du nicht machen! Wir haben Freikarten!“
Noch einmal vergingen fünf Minuten, in denen das Stück seinen unaufhaltsam dümmlichen Verlauf nahm. Neuerlich neigte sich Grünbaum seinem Partner Morgan zu. Und sagte jetzt: „Aus! Schluss! Vorbei! Ich renn zur Kassa, kauf zwei Karten und geh nach Hause.“
Beide Protagonisten dieser Geschichte, Fritz Grünbaum und Paul Morgan, wurden in den KZs der Nationalsozialisten ermordet.
Für Grünbaum mussten nach dem Krieg am „Simpl“ zwei Nachfolger gefunden werden: Ernst Waldbrunn als Partner in der Doppelconférence und Hugo Wiener, der nun gemeinsam mit Farkas die Texte schrieb. Wiener hatte mit seiner Frau Cissy Kraner die Jahre der Emigration in Südamerika verbracht und war danach maßgeblich am Erfolg des Kabaretts in der Wollzeile beteiligt. Letztlich scheiterte die Zusammenarbeit mit dem nicht uneitlen Farkas aber daran, dass dieser den Erfolg für sich allein haben wollte. War vor dem Krieg jedes „Simpl“-Programm als „Farkas-Grünbaum-Revue“ angekündigt worden, so stand in der neuen Ära nur noch „Die Farkas-Revue“ auf dem Plakat. Als der bescheidene Hugo Wiener seinem Co-Autor einmal vorschlug, das neue Programm in Anlehnung an die alten Zeiten gerechterweise „Farkas- Wiener-Revue“ zu nennen, stimmte Farkas sofort zu.
Was aber stand vor der nächsten Premiere auf dem Plakat? „Die Wiener Farkas-Revue!“ Womit die Zusammenarbeit ein für alle Mal beendet war. Hugo Wiener hat mir das viele Jahre nach Farkas’ Tod erzählt. Zu seinen Lebzeiten hätte er vermutlich – da ich für Farkas gearbeitet hatte – kein Wort mit mir gesprochen. Nun aber schrieben wir viele Fernsehsendungen gemeinsam und ich habe ihn als wirklich noblen Herrn in Erinnerung behalten.
Im Mai 2002 nahm ich für den ORF eine Radiosendung mit der berühmten Sängerin Marta Eggerth auf, die 1938 mit ihrem nicht minder berühmteren Mann Jan Kiepura in die USA geflüchtet war. Sie erzählte aus ihrem Leben und hinterließ mir bei dieser Gelegenheit gleich zwei „NU“-taugliche Geschichten. Die gebürtige Budapesterin hatte in Hollywood zu einem Kreis ungarischer Emigranten wie Franziska Gaal, Szöke Szakáll und Emmerich Kálmán gehört, die sich regelmäßig in Los Angeles trafen. Eines Abends stieß – so Marta Eggerth – der berühmte Regisseur Otto Preminger als einziger Nicht-Ungar zu der gerade in heftige Diskussionen verstrickten Magyarenrunde. Der Wiener hörte eine zeitlang zu, schlug dann mit der Hand auf den Tisch und brüllte: „Verdammt noch mal, Ihr seid in Amerika! Sprecht gefälligst Deutsch!“
An dem Marta-Eggerth-Abend im Radiokulturhaus nahm klarerweise auch Marcel Prawy teil, der ja in den USA für sie und Jan Kiepura als Privatsekretär gearbeitet hatte. Als sie so aus alten Zeiten plauderte und Prawy ihr in einer ihrer Erinnerungen heftig widersprach, unterbrach sie ihn mit den Worten: „Marcello, mein Lieber, von diesen Dingen verstehst du nichts. Du solltest dich lieber um die unerledigte Post kümmern, die sich seit 1939 auf meinem Schriebtisch türmt!“
„Ja“, gestand Prawy, „ein paar Briefe hab ich noch nicht beantwortet, ich bin einfach noch nicht dazugekommen.“ Die kleine Verzögerung war kaum der Rede wert, es waren ja erst 63 Jahre vergangen.
Mit Geschichten, die Marcel Prawy mir in unserer langjährigen Freundschaft erzählte, könnte ich ganze „NU“-Ausgaben füllen, was nicht geschehen wird, aber eine sei mir noch gestattet, weil sie so gut hierher passt: Marcello war 1948 Chefdramaturg an der Volksoper, als dort eine Neuinszenierung der Johann-Strauß-Operette „Eine Nacht in Venedig“ Premiere feierte. Zu bewundern waren die Sängerinnen Maria Olszewska und Hertha Mayen.
Als Prawy, wie er erzählte, nach der Vorstellung die Damengarderobe betrat, um den Künstlerinnen zu gratulieren, wurde er Zeuge einer Reminiszenz, deren auslösendes Moment Jahrzehnte zurück lag: Die Olszewska war Mitte der 20er-Jahre aus der Staatsoper entlassen worden, weil sie während einer „Walküre“-Aufführung der großen Maria Jeritza ins Gesicht gespuckt hatte, nachdem diese ihrem Ehemann Emil Schipper etwas zu nahe gekommen war.
Ein Vierteljahrhundert war vergangen, als Prawy in die Damengarderobe der Volksoper trat und sogleich feststellen musste, dass die Eifersucht der Olszewska ungebrochen war. Und so kam sie jetzt auf eine weitere Untreue ihres Mannes – wenn auch mit einer ganz anderen Sängerin – zu sprechen. „Dieses Schwein“, brüllte die Diva, „er hat mich betrogen mit einer – entschuldigen Sie, Frau Mayen: mit einer Hure! Noch dazu – entschuldigen Sie, Herr Prawy: mit einer jüdischen!“
Beim Stichwort – entschuldigen Sie, liebe Leser – „Hure“ muss ich zu Gerhard Bronner zurückkehren. Während seiner nächtelangen Erzählungen in Bela Korenys Broadway Pianobar kam er natürlich auch auf die große Zeit des Wiener Kabaretts und seine kongenialen Mitstreiter Helmut Qualtinger und Georg Kreisler zu sprechen. Und auch darauf, wie er einmal nach einer Vorstellung in den 50er-Jahren mit Kreisler über die Kärntner Straße ging, auf der damals noch die „Schönen der Nacht“ ihrer Kundschaft harrten. Es war eiskalt, schneite und stürmte, als sie an zwei in dicke Schals gehüllten Prostituierten vorbeigingen. Bronner drehte sich nach ein paar Metern um, sah die frierenden Geschöpfe noch einmal an und flüsterte Kreisler zu: „Also, ehrlich, bei dem Wetter möcht ich ka Hur sein!“
Worauf Kreisler die nicht unberechtigte Frage stellte: „Bei welchem Wetter möchst du a Hur sein?“
Als Bronner mir diese Episode erzählte, war er mit Kreisler längst spinnefeind. Die beiden Kabarettlegenden hatten seit Jahrzehnten keinen Kontakt mehr. Am selben Abend noch setzte sich Bronner ans Klavier der Broadway Pianobar, um wie so oft den einen oder anderen seiner Klassiker zu spielen – vom „Bundesbahnblues“ über den „G’schupften Ferdl“ bis zum „Wilden mit seiner Maschin“ – um die ihn die Barbesucher durch Zuruf der einzelnen Titel gebeten hatten.
Zum Verständnis der nun folgenden Geschichte muss ich hier einfügen, dass es vor Urzeiten die Vermutung gab, Georg Kreisler hätte sein bekanntestes Chanson „Geh ma Tauben vergiften im Park“ dem amerikanischen Lied „Poisoning Pigeons in the Park“ von Tom Lehrer „nachempfunden“. Als Bronner an diesem Abend also am Flügel der Broadway Pianobar saß und etliche seiner Nummern spielte, rief ihm ein Herr plötzlich zu: „Herr Bronner, spielen S’ ,Geh ma Taubenvergiften im Park‘.“ Worauf er entgegnete: „Taubenvergiften ist nicht von mir.“ Dann wandte Bronner sich dem Herrn im Publikum zu und sagte: „Es ist nicht einmal vom Kreisler!“
Kreisler revanchierte sich nicht unelegant. Als er von einem Journalisten gefragt wurde „Was kann Gerhard Bronner besser als Sie?“, antwortete er: „Gerhard Bronner kann besser schlechte Lieder schreiben als ich!“
Gerne erinnere ich mich an die Begegnungen mit dem weltweit als Terror- und Aggressionsforscher bekannt gewordenen Psychiater Friedrich Hacker, mit dem mich ebenfalls eine Freundschaft verband. In Wien zur Welt gekommen, hatte er noch einige Vorlesungen Sigmund Freuds besucht, ehe er in die USA emigrierte und in Los Angeles eine angesehene psychiatrische Klinik gründete. Trotz der unauslöschlichen Erinnerung, wie er und seine Familie aus der Heimat vertrieben wurden, war seine Liebe zu Wien ungebrochen, und er kam immer wieder hierher. Schließlich ergriff er Ende der 60er-Jahre die Initiative, in den ehemaligen Wohn- und Ordinationsräumen des „Vaters der Psychoanalyse“ ein Sigmund-Freud-Museum zu errichten. Und mit dieser Großtat ist eine der schönsten Hacker-Geschichten verbunden.
Nachdem es ihm gelungen war, die österreichische Regierung für das Projekt zu gewinnen, schlug Hacker dem damaligen Bundeskanzler Josef Klaus vor, Freuds in London lebende Tochter Anna zur bevorstehenden Eröffnung des Museums in der Berggasse 19 einzuladen. Der Regierungschef war einverstanden, bat Hacker jedoch, für ihn den Text des Einladungsbriefes an Anna Freud zu formulieren, da er selbst nicht recht wüsste, wie die berühmte Tochter eines noch berühmteren Vaters anzusprechen sei und mit welchen Worten eine solche Einladung zu erfolgen hätte.
Professor Hacker, der Anna Freud gut kannte, formulierte den Brief, der dann vom Kanzler unterzeichnet wurde. Eine Woche später läutete Hackers Telefon, am Apparat war Anna Freud. „Stellen Sie sich vor, Doktor Hacker“, sagte sie, „ich habe einen Brief vom österreichischen Bundeskanzler erhalten, in dem er mich zur Eröffnung eines Freud-Museums einlädt. Ich komme natürlich gerne, aber ich habe noch nie einem Bundeskanzler geschrieben, und da wäre meine Bitte an Sie: Könnten Sie so nett sein, für mich das Antwortschreiben aufzusetzen?“
Hacker kam auch dieser Bitte nach. Er antwortete seinem eigenen Brief und Anna Freud unterschrieb. Aus Einladung und Antwort entwickelte sich ein intensiver Schriftverkehr zwischen Josef Klaus und Anna Freud, der sich über mehrere Monate hinzog. Wobei jeder einzelne Brief vom unermüdlichen Friedrich Hacker stammte.
Eigentlich hatte ich vor, diesmal auch von Begegnungen mit „ganz normalen Genies“ wie Peter Ustinov, Ephraim Kishon, Henry Grunwald und Teddy Kollek zu erzählen. Dass dies nicht gelang, muss wohl daran liegen, dass Genies – insbesondere jüdische – für allzu kurze Geschichten vollkommen ungeeignet sind.